Ist es möglich zu reisen, ohne wegzufahren? Ich habe mir vorgenommen, es einen Tag lang zu versuchen. Doch am Anfang allen Handelns steht der Gedanke. Das etymologische Wörterbuch, welches den Begriff Reisen auf das germanische “reis-a” (aufbrechen) zurückführt, hilft mir nicht weiter. Praktischer mutet mich dagegen Georg Weerths Satz an, man reise nicht billiger und nicht schneller als in Gedanken. Darum denke ich nach, was auf Reisen anders ist, was den Reiz des Reisens ausmacht. Ist es der milde Blick, der in der Fremde verzeiht, was er im Gewohnten verabscheut? Ist es die Geistes-Sucht nach Abwechslung? Ist es der Reiz des Anfangens? Ich entscheide mich, damit zu beginnen, die gewohnten Dinge neu zu sehen. Um mir dabei zu helfen, werde ich ein bisschen wegfahren: mit der Straßenbahn.

Jede Straßenbahnfahrt beginnt an einer Haltestelle, auch diese. Die Haltestelle ist wie die meisten Haltestellen, vielleicht ein wenig luxuriöser. Sie hat ein gläsernes Wartehäuschen, das sich auf dem Bahnsteig schmal macht. Es beherbergt einen Fahrkartenautomaten, den Fahrplan und vier Sitzplätze, die einem genormten menschlichen Hinterteil angepasst sind. Vor mir, zwischen den Gleisen im Schotter, wo sich zwei Cola-Dosen gegeneinander verneigen, prangt ein Spritzer Grün, ein Spitzwegerich, der mit grünen Zungen nach dem Gleiskörper leckt. Neben mir steht eine Frau. Die winzige Straßenbahn wird größer und größer. Sie ist graublau, taubenblau, meerblau und hat eine Notbremse, rot wie Klatschmohn und englische Telefonzellen, 47 Sitzplätze und 67 Stehplätze und ein rotes Hämmerchen zum Einschlagen der Fensterscheiben, rot wie die Feuerwehr, doch nur im Notfall. Was ist ein Notfall?

Ich setze mich. In den Fenstern der Straßenbahn rennen andere Fenster, die Straßenbahn rennt in den Schaufenstern, Waldfetzen ziehen vorüber, Villen hinter gezahnten Mauern trödeln, drei Birken in Efeustrümpfen nehmen im Fenster Platz. Warum sehen die Menschen in der Straßenbahn eigentlich meistens blass und ungesund aus? Liegt es am Licht?

“Immer blamierst du mich”, sagt ein Mann zu einem kleinen Jungen, der darauf anfängt zu lachen, und der nicht mehr aufhört. Das Lachen steigert sich zum meckernden Stakkato. Erst der Satz: “Sei still, du Mistkerl”, schneidet das Lachen ab. Es ist nun so still in der Straßenbahn, als würden alle Passagier e ein Lachen anhalten. Nur ein alter Mann nickt ein endloses Nicken um sich. In den Fenstern huschen Zaunfiligran und Dachspitze, Möbel-Schuh-Lebensmittel-Zigarren-Blumenläden, Metzgereien, Banken, Bäckereien, Drogerien eilen sich, Briefkästen, Litfasssäulen, Fahrradständer hasten. Der dunkelblaue Rücken des Fahrers zittert, die Wangen, die Hände, die Knie der Fahrgäste zittern. Ja, es sind Zwillinge, zwei etwa dreißigjährige Männer, die mir gegenüber Platz genommen haben. Sie sind sich so ähnlich, dass man den anderen mitzubetrachten scheint, wenn man den einen anschaut. Dennoch sehe ich beide an. Ich versuche, das Gesicht des einen als Folie über dem Gesicht des anderen zu sehen. Ich suche nach kleinen Abweichungen des einen vom anderen. Sie scheinen mein Starren nicht zu bemerken, sie schauen nirgendwo hin, wie man es in Räumen zu tun pflegt, in denen man sich zu nahe kommt. Mir wird klar, dass ich normalerweise genau wie sie nirgendwohin schaue. Aber heute bin ich eine Reisende. Reisende schauen.

“Gehts hier nicht nach Arheilgen?” fragt ein etwa dre izehnjähriges Mädchen eine alte Frau. Sie sieht aus wie jemand, den man fragen kann, ob es hier nicht nach Arheilgen gehe. Man weiß zwar längst, dass es hier eigentlich nach Seeheim geht, aber man hofft, sie sei in der Lage, jeden Ort für Arheilgen zu erklären.

“Leider nicht, du hast die falsche Bahn genommen. Hier geht es nach Seeheim”, sagt die alte Frau. In den Fenstern huschen Obstbäume und Brombeerhecken. Die Straßenbahn brummt und ruckelt, Häuser galoppieren, zügeln sich, trotten, stehn - Seeheim. Ich bin da, wo ich nicht hinwollte. Doch anders als das Mädchen, welches nach Arheilgen will und das nun mit mir an der Endhaltestelle steht, bin ich gern hier. Da ich kein Ziel habe, bin ich überall aufgehoben. Bedeutet dies Reisen: kein Ziel haben?

Hinter meinem Rücken zieht sich der kleine Ort die Bergstraße hin auf. Vor mir liegt eine winzige Grünanlage zwischen die Bundesstraße 3 und die Schienen gebettet. Die Blüten einer akkuraten Reihe Cannas züngeln rot über ein vergilbendes Gebüsch. Ein Kind reißt auf einem kläglichen Rasenstück einem Gänseblümchen den Kopf ab. Zw ei Mütter schieben plaudernd Kinderwagen über den steinigen Weg, der die Grünanlage halbiert. Ein altes Ehepaar verschnauft auf einer Holzbank. Ich setze mich neben sie. Sie sprechen über die Dinge, die sie eingekauft haben. Ich halte mein Gesicht in die Spätsommersonne. Eine Libelle setzt sich wie eine Brosche auf die Bluse der alten Dame neben mir. Wir drei auf der Bank halten die Luft an, damit das Insekt dort sitzen bleibt. Als es fortfliegt, stehen die alten Leute auf und gehen langsam davon. Ich spüre, dass sich meine Muskeln entspannen. Nicht weit von mir fließt der Verkehr in Richtung Heidelberg. Der Ort, an dem ich mich befinde, ist nicht spektakulär, noch nicht einmal schön, aber einen Moment lang bin ich wirklich hier, wirklich am Leben. Vielleicht, weil ich nichts erwarte, vielleicht aber auch, weil nichts hier geeignet ist, meine Ansprüche, meine Sehnsucht in Gang zu setzen.

Hinter meinem Rücken fährt die Straßenbahn in Richtung Darmstadt ab. Sie erinnert mich daran, dass ich eine Reisende bin. Der paradiesische Zustand, in dem ich mich eben noch befand, löst sich auf. Ich beginne, mir Bilder vom Reisen zu machen. Sie hängen sich an die Fragen: “Wo fängt der Zustand des Reisens an, wo endet er?” Bilder sind wie ein Sog, der Handlungen nach sich zieht. Ich sollte mit der nächsten Bahn zurückfahren. Doch wohin? Als Reisende trägt man Verantwortung für seine Zeit. Man wird nicht von den täglichen Verrichtungen mitgespült in das scheinbare Zeitvakuum, das sich Alltag nennt und das morgens anfängt und abends nicht endet. Als Reisende kennt man die Kostbarkeit von Minuten. Am richtigen Ort verbracht, bergen sie die Möglichkeit ungeahnter Gefühle in sich. Ich strecke die Beine aus. Nichts muss geschehen. Alles darf geschehen. Ich bin einen Tag lang Reisende. Vielleicht gelingt es mir, Reisende zu sein, weil es nur einen Tag lang dauert. Jedenfalls aber bin ich eine Reisende im Sitzen.

Ursula Teicher-Maier