Mein Gedächtnis funktioniert sehr seltsam. Will ich mich an den Inhalt eines Buches, den Namen seiner Heldin, erinnern, meldet es mir, dass ich heute vor fünf Jahren, punkt zwei Uhr in der Riedeselstraße einen alten Bekannten traf, der braune Ohrenwärmer trug und darum wie ein Koalabär aussah, ein Koalabär, der Hallo sagte. Wenn ich nun eben diesen Bekannten wiederträfe, könnte es sein, dass mir nicht sein Name einfiele, jedoch der Titel des Referats, das wir vor zwanzig Jahren an der Universität gemeinsam hielten. So also funktioniert mein Gedächtnis. Wer wollte da behaupten, es sei schlecht, doch eigenwillig, ja, so könnte man es nennen oder: störrisch wie ein Esel. Darum bin ich auch für Prüfungssituationen denkbar ungeeignet, es sei denn, mein Prüfer hätte ein Herz für lange Assoziationsketten. Mein Gedächtnis, davon bin ich überzeugt, ist ein Familienerbe. Wenn ich zum Beispiel meine Mutter frage: Sag mal, wie war denn das damals mit Onkel Paul?, antwortet sie mir bestimmt: O, da müsste ich einmal nachdenken, doch Tante Lotte, die Krankenschwester, du weißt schon, hatte vor dem Krieg einen reichen Verehrer, einen Schokoladenfabrikanten, und um ein Haar wäre Geld in Form von Schokolade in die Familie geflossen, aber Lotte war einfach nicht bindungsfähig.

Bindungsfähig ist ein Wort, das meine Mutter liebt, seitdem sie ein Buch von... wie hieß er doch gleich?... gelesen hat. Seitdem unterteilt sie mit Leidenschaft in bindungsfähig und nicht bindungsfähig. Sie selber gehört zu ersterer Kategorie, davon ist sie überzeugt, ihre Ehejahre mit meinem Vater seien der Beweis dafür. Ein schlagkräftiger Beweis! Nein, schlagkräftig ist vielleicht nicht das rechte Wort für die Beziehung meiner Eltern. Man täte ihr unrecht, geschlagen hat niemand in dieser Ehe, daran kann sich zumindest keiner erinnern. Auch ich nicht. Nur einmal, sagt meine Mutter, ein einziges Mal nur, warf dein Vater ein Messer nach mir. Doch das war nicht so schlimm, denn es flog an mir vorbei, flog durchs Fenster und landete vor dem Haus. Es war nur gut, dass gerade keiner vorbeikam.

Dieses Messer, meine Mutter erinnert sich manchmal ganz plötzlich daran und erzählt mir seine Geschichte - wenn ich gerade etwas über die Zusammensetzung von Haarbleichmitteln von ihr wissen will oder über den Onkel, der in die DDR ausgewandert ist - dieses Messer also ist in meinem Kopf zum geflügelten Messer geworden, und auch ich erinnere mich bisweilen daran und frage mich, ob es an meiner Mutter vorbei geflogen ist, weil es eigentlich lieber auf einem Ast sitzen und zwitschern wollte. Oder sollte sich meine Mutter gerade im rechten Augenblick gebückt haben, um sich die Schnürsenkel zu binden oder um meinem Vater den Teppich unter den Füßen wegzuziehen? Wer weiß. Ich jedenfalls bin auf Vermutungen angewiesen, da es niemanden in der Familie gibt, der über ein normal funktionierendes Gedächtnis verfügt. Leider betrifft dies, wie gesagt, auch mich, auch ich kann mich selten genau daran erinnern, was früher geschah. Meine Kindheit ist ein fast unzugänglicher Kontinent. Selten nur gelingt es mir, einen Fuß ins Dickicht zu setzen, um ein Bild, ein Gefühl mit nach Hause zu bringen. Das Starren auf Lamettafäden beispielsweise, in denen sich Licht und Schatten spiegeln, Schatten, die mich stillhalten lassen, den Atem angehalten vor Grauen. Oder den Gang in den Keller, in dem sich schwarze Männer aus den Mauern lösen, Männer, die man wegsingen muss, die man lärmend ignorieren muss, damit sie sich nicht auf einen stürzen. Und meine Eifersucht, die kehlezuschnürende, auf jede und jeden, die die spärliche Zeit meiner Mutter beanspruchen.

Was für ein Kind war ich, habe ich ab und an jemanden aus der Familie gefragt.

Du warst ein sehr lebhaftes Kind, du warst ein sehr ruhiges Kind, du warst ein etwas dickköpfiges Kind, es war nicht ganz einfach mit dir, du warst eigentlich recht wohlerzogen, du hast fast alles gegessen, du warst ein wenig still, du hattest schiefe Zähne, du hattest abstehende Ohren, es ist schon so lange her, ich glaube, du sahst deinem Onkel Albert ähnlich oder deinem Vater.

Solche Fragen stelle ich heute nicht mehr, doch es gibt Dinge, die immer wieder einmal nach Erklärungen rufen, das geflügelte Messer ist eines davon. Ein Warum erhebt sich in die Luft, um sich mit dem Messer auf den Ast zu setzen und zu zwitschern. Warum, warum, warum, dumm, dumm. Doch keiner antwortet. Manchmal allerdings kann ich mir die Eigenheit des Familiengedächtnisses zunutze machen. Ich frage nach einer Sache und erfahre eine andere, mir noch nicht bekannte. Was für ein Messer war denn das damals, frage ich meine Mutter, ein Küchenmesser oder eines aus dem Silberbesteck, und sie sagt: O, das ist lange her, ich weiß nur noch, dass der Unterteller, den dein Vater vom Balkon warf, aus dem Rosenthal-Service stammte. Und ich warf dann die Tasse hinterher, die brauchte ich ja nun nicht mehr.

Das Seltsame ist nur, dass die Gedächtnisschwäche meiner Familie anscheinend auch auf Freunde und Nachbarn überzugreifen scheint, wenn man etwas wissen will, etwas, das meine Familie betrifft. Ob mein Vater mit seiner vierten Ehefrau ein Kind gezeugt hat, zum Beispiel, oder ob Onkel Hans nach dem Krieg entlassen wurde. Es ist wie eine Krankheit, die alle befällt, die mit meiner Familie in Berührung kommen: Man sieht ins Leere, streicht sich den imaginären Schnurrbart oder nestelt an der Tischdecke und sagt: Darüber muss ich einmal nachdenken, aber dass Deine Urgroßmutter dreimal verheiratet war, das habe ich dir doch schon erzählt, oder?

Wer kann es mir da verdenken, dass ich, was meine Ahnenforschung betrifft, verwirrt bin. Wenn man mich fragen würde, wie viele Kinder meine Großeltern mütterlicherseits hatten, würde ich mir den imaginären Schnurrbart zupfen und sagen: Eines weiß ich, nämlich, dass meine Urgroßmutter eine tolle Frau war, und dass sich einer ihrer Ehemänner, ich weiß jetzt leider nicht mehr, ob es der mittlere oder der letzte war, im Wald bei Dresden erhängt hat.

Natürlich gibt es auch in meiner Familie Geburts- und Sterbeurkunden und einen Stammbaum. Doch es ist merkwürdig: Wenn ich bislang das Bedürfnis habe, sie zu lesen, überfällt mich eine solche Müdigkeit, dass ich mich auf der Stelle aufs Sofa legen muss, um ein Nickerchen zu halten. Manchmal denke ich darüber nach, ob dies alles nicht ein wenig seltsam ist, und ob ich nicht bei Gelegenheit einmal herausbekommen sollte, wie viele Geschwister ich habe, doch dann sehe ich meistens einen Buntspecht auf der Birke vor dem Haus sitzen oder ich muss dringend das Wort Hippanthropie im Wörterbuch suchen.