Das in Flutlicht getauchte Schloss von Sablé sur Sarthe spiegelt sich kokett im Fluss. Zu seinen Füßen liegt die Flotte von Hausbooten im kleinen Hafen. Die meisten Freizeitkapitäne sind nun in ihren Booten verschwunden. Nur die Besatzung des Nachbarbootes ist schweigsam und reglos wie eine Büstensammlung in den Kajütenfenstern zu sehen. Bis auf das beständige Rauschen der nahen Staustufe ist jetzt um halb elf am Fluss kaum noch etwas zu hören. Bisweilen knarrt eine Bootswand am Bootssteg. Ganz selten fährt ein Auto in der Nähe vorbei. Die Hafenbar ist zwar noch beleuchtet, doch kein Geräusch dringt nach draußen. Unsere erste Nacht auf dem Hausboot bricht an. Wir steigen in die Kajüten hinab. Sie liegen so dicht beieinander, dass man die Atemzüge des Nachbarn hören kann.

Um fünf schlagen die Vögel am Fluss gegen das Rauschen des beginnenden Berufsverkehrs an. Zwei Stunden später frühstücken wir gemütlich an Deck. Die Farbe des Flusses hat am Morgen von Schwarz nach Braun gewechselt. Über ihm ragt eine Zeder bizarr aus der Stadtsilhouette heraus. Eine alte Brücke malt mit ihren Bögen fast perfekte Kreise am Wasserspiegel. Unser Boot ist für sechs bis acht Flussreisende vorgesehen. Es hat drei Kajüten. Zwei davon können nur kriechend belegt werden. Die dritte, mit Teppichboden und Spiegeln ausgekleidet, ist größer. Neben den Kajüten sind zwei Toiletten. Der Wasserhahn, aus den Waschbecken gezogen, fungiert auch als Duschkopf. Das zehn Meter lange Boot hat ein Sonnendeck mit einem zweiten Steuer. Dadurch ist es ziemlich hoch und kann nicht alle Brücken des Flusses passieren. Dies erklärt uns Christoph, ein Angestellter der Reederei, der am Morgen mit der für die Gegend normalen Verspätung von einer halben Stunde auf dem Bootssteg erscheint, um uns die Navigation beizubringen. Allerdings auf Französisch. Immerhin liegt neben dem Steuer das Navigationsbuch, ein wetterfester Plastikordner. Darin kann man noch einmal in Ruhe alle Regeln nachlesen. Einen Führerschein benötigt man nicht für die meisten Hausboote auf der Sarthe, jenem in die Loire mündenden Flüsschen, auf dem wir in den folgenden Tagen schippern werden.

Die wichtigsten Regeln sind schnell gelernt: Zwei gelbe Rhomben zeigen die Fahrrinne an, ein schwarzer Pfeil leitet das Boot in der Höhe von Staustufen zu den Schleusen. In der Regel ist in der Flussmitte zu fahren. Zum Steuern braucht man ein wenig Erfahrung. Das Boot reagiert mit Verzögerung, jedoch heftig auf Steuerbewegungen. Zum Glück ist es rundum mit Gummifendern ausgestattet, die den Aufprall an Bootsstegen oder Wänden von Schleusenkammern mildern. Beruhigend wirkt auch die Vorstellung, dass es nur eine Höchstgeschwindigkeit von zehn Stundenkilometern hat.

Nach einer einstündigen Unterweisung geht es los. Die erste Brücke ist leicht passiert. Eine farbenprächtige Ruderregatta eilt, als wir kommen, zackig dem Ufer zu, wo Trauerweidenzweige im Wasser gründeln. Der Sprungturm eines Schwimmbades ist das letzte Zeichen der Stadt. Danach säumen Lilien die Ufer, und Teichrosen recken ihre Schlangenhälse mit dem gelben Blütenkopf. Dahinter Gebüsch, an kleinen Stegen vertäute Holzkähne und Rinder, die bisweilen halsbrecherisch auf der überlappenden Grasnarbe knien, um zu trinken. Ein Enterich überholt rätschend das leise tuckernde Boot. Ein Reiher auf einer Pappel schaut mit eingezogenem Kopf auf uns herab. Dann begleitet er uns mit schwerem Flügelschlag ein Stück. Ein Herrensitz lugt zwischen üppigem Grün hervor.

Vor Schleusen ist zweimal zu hupen. Die Schleusenmeisterin kommt aus dem Haus und öffnet die schweren Tore - hier auf der Sarthe noch manuell. Die ganze Prozedur dauert lange, da immer nur ein Torflügel bewegt werden kann und die Éclusière mehrmals um die ganze Schleuse herumgehen muss. In der ersten Schleuse ratscht unser Boot noch mächtig an den Wänden entlang. Nun muss es von der Mannschaft mit Hilfe herabhängender Seile an einer Schleusenwand festgehalten werden. Als der richtige Wasserstand erreicht ist, verlässt es schwänzelnd und noch einmal kräftig an beide Wände krachend die Schleuse. Wir fahren durch einen schmalen Kanal. Hier ist eine Höchstgeschwindigkeit von vier Stundenkilometern vorgeschrieben. Blaue Libellen stehen wie Wimpel an Gräsern. Das Boot schnurrt friedlich. Sonnenkringel glitzern auf dem grünschimmernden Gewässer, dessen wild überwucherte Ufer eilig weghuschende Blesshühner einfangen und wieder freigeben.

Auf der rechten Seite taucht der große graue Bau der Abtei von Solesmes auf. Mit der Strenge einer alten Fabrikhalle vermittelt sie erst bei näherem Hinsehen einen klerikalen Eindruck. Doch bevor wir zu ihr hinaufgehen können, gilt es, das Boot an den Pollern sicher zu vertäuen. Die Klostergebäude von Saint-Pierre-de-Solesmes sind dem weltlichen Besucher verschlossen. Vor ihren Toren segnet ein efeuumrankter Engel ein Beet mit fleißigen Lieschen. Daneben im Pförtnerhaus kann man sich anhand von Fotografien und einem Klostermodell einen Eindruck vom Lebensraum der Benediktiner machen, deren Gesänge das Kloster seit hundert Jahren zum Zentrum der Gregorianik in Frankreich gemacht haben. Die Mönche betreten für die Stundengebete kahlgeschoren und in der schwarzen Robe des Ordens die Kirche. Ihre Choräle und ihr minutenlanges Schweigen füllen das Gebäude aus dem vierzehnten Jahrhundert.

Zurück auf dem Fluss haben wir Einblicke in blühende Gärten, dann Auwald, der den Wind hörbar macht. Ein anderes Hausboot kommt uns entgegen. Zwei Grünspechte fliegen steuerbords. Am Ufer sitzen bisweilen Angler stoisch aufs Wasser schauend, von Kühltaschen flankiert, manchmal von Frau und Kind. Sie winken dankbar herüber, wenn wir im Bogen um sie herumfahren. Rechts steht ein Herrensitz hoch über dem Fluss, links ein anderer, der von landwirtschaftlichen Gebäuden umringt ist. Dann wieder eine Schleuse mit einem Haus, das mit seinen Spitzengardinen in den Fenstern, den Blumenrabatten und der flatternden Wäsche so adrett wie alle anderen Schleusenmeisterhäuser aussieht. Und ein weiteres Schloss kurz vor dem Ort Juigné, wo wir anlegen, weil der Magen knurrt.

Schwalben fliegen schnell wie sichtbar gemachte Pfiffe durch die menschenleeren Straßen des Dorfes. Doch der einfache Gasthof ist gut besucht. Nach einem opulenten Menü ist auf dem Boot ein Mittagsschlaf unumgänglich, zumal die nächste anzusteuernde Schleuse noch geschlossen sein wird - den Éclusiers steht eine staatlich verordnete Mittagspause zu.

Auch der Ort Sablé sur Sarthe wirkt wie ausgestorben. Doch der Aushänger einer Boule-fort-Anlage weist auf Lebendiges hin. Hier in einem langen barackenartigen Raum spielen die Honoratioren des Ortes das eigenartige Boule-Spiel der Gegend, das auf den Flusskähnen des Vendée entwickelt worden ist. Da die Kugeln nicht ins Wasser fallen durften, musste auf einer rinnenförmigen Bahn gespielt werden, und auch die Kugeln haben dadurch, dass ihr Schwerpunkt auf eine Seite verlagert ist, immer die Tendenz, nach innen zu rollen. Die alten Männer betreten die empfindliche, dreiundzwanzig Meter lange Kunststoffbahn mit Hausschuhen und setzen die Kugel wie ein rohes Ei auf, und diese torkelt auf wundersamen Umwegen zum Ziel. Dass man sich hier auf das Spiel versteht, zeigt eine stolze Reihe von Pokalen.

An der Staustufe von Sablé verfällt eine Mühle malerisch. Eine andere steht gegenüber der nächsten Schleuse, dann links ein großes Schloss. Ein blauer Pfeil fliegt am Ufer entlang: ein Eisvogel, ein zweiter, ein dritter. Der Fluss ist nun so spiegelglatt, dass sich die Enten im Flug verdoppeln. Ebenso die Landschaft. Wie in einem Klecksbild wird Oben und Unten austauschbar. Rechts stehen Pappeln in Reih und Glied, links wechseln sich Gebüsch und Weideland ab, später kehrt sich auch dies um. Ein Ballett von Strommasten nimmt die Illusion, Raum und Zeit entronnen zu sein.

Es ist Abend, und wir legen an einem Steg an, der ein Hinweisschild auf ein Restaurant trägt: L' Auber ge des Acacias. Sie liegt im Weiler Dureuil. Die Pächterin Yvonne Chevallier, eine Deutsche, die das Restaurant mit ihrem französischen Mann betreibt, begrüßt jeden Gast und berät beim Studium der kleinen aber feinen Speisekarte. Im Gärtchen der Auberge tischt sie dann ein Menue auf, das genauso gut schmeckt, wie es klingt: pigeonneau du Maine aux sept poivres et sa garniture du moment - poêlée de langoustines bretonnes et rouelle de tête de veau en ravigote de poiveaux nouveaux und einen Nachtisch, der einem Gemälde gleicht. Nach dem Essen plaudert Madame Chevallier über die Gegend. So über den Weinproduzenten Monsieur Damicour, den Besitzer des großen Schlosses, das wir am Fluss gesehen haben. Er isst bisweilen bei ihr und schwätzt ihr schon einmal eine Flasche seines eigenen Weines, den sie ausschänkt, umsonst ab, um damit die anderen Gäste zu bewirten. Dass es hier wenige Deutsche gebe, erzählt sie, und überhaupt wenige Ausländer, nur Pariser. Die liebten die Ruhe der Gegend, zumal sie nur zwei Stunden Anfahrt hätten. Und dass viele der Schlösser hier an der Sarthe noch im Besitz des alten Adels seien. Nach dem Essen geht es die hundert Meter zum Boot zurück. Am Fluss ist es still - bis auf den Klangteppich der Grillen und das Patschen kleiner Wellen an den Bootssteg.

Am nächsten Morgen leuchten Mückenschwärme über dem Wasser. Nach dem Frühstück brechen wir auf. Es ist windig und es wird immer schwerer, das Boot gerade zu halten - besonders beim Navigieren vor und nach der Schleuse bei Malicorne. Wir sind froh, als wir am Ort angelegt haben. Der Ort ist durch das Töpferhandwerk bekannt, das hier schon seit der Römerzeit betrieben wird. Wir besichtigen eine der Fayencerien von Malicorne. Der Sohn der Firmeninhaber erklärt anhand der ausgestellten Stücke, dass die Töpfer von Malicorne, deren berühmtester Jean Loyseau gewesen sei, in großer Perfektion die Stile des alten Quimper, von Rouen und von Le Moustiers kopiert, jedoch nie einen eigenen Stil entwickelt hätten.

Wieder auf dem Fluss, ist uns die nächste Schleuse gewiss. Doch Übung macht auch hier den Meister und einige Unbeholfenheiten werden vom Éclusier höflich dem Wind zugeschrieben. Nur einmal noch, in einem Kanal, wird es schwierig: Die Schleuse ist besetzt, und am Anleger liegt ein anderes Boot. Als wir die Geschwindigkeit drosseln, legt sich unser Boot quer und schlägt ans Ufer. Ein Regenguss tut das Seine, die Mannschaft wie begossene Pudel aussehen zu lassen. In Noyen sur Sarthe legen wir für die Nacht an. Wir könnten weiterfahren, denn es ist erst später Nachmittag und die Schleusen sind bis Acht geöffnet. Doch die Ruhe des Flusses, die unspektakuläre Stille der Landschaft macht uns bedürfnislos. Wir sind bisher zweiunddreißig Kilometer gefahren und sind dabei nur wenigen anderen Hausbooten begegnet. Hundertdreißig Kilometer des Flusses sind schiffbar: die Strecke zwischen Angers und Le Mans. Wir werden morgen zurückkehren.

Ursula Teicher-Maier

Anreise:  Über Paris auf der Autobahn A 11; über Paris mit dem Hochgeschwindigkeitszug TGV ab Bahnhof Montparnasse (Paris - Le Mans 1Std, Paris - Angers 1, 5 Std).

Haustiere sind in den Booten willkommen, dürfen jedoch nicht auf Polstern oder Betten sitzen.