Wovon wir erzählen, ist vor allem jenes Land, das in uns und aus uns schaut.
Ist es möglich zu reisen, ohne wegzufahren? Ich habe mir vorgenommen, es einen Tag lang zu versuchen. Doch am Anfang allen Handelns steht der Gedanke. Das etymologische Wörterbuch, welches den Begriff Reisen auf das germanische “reis-a” (aufbrechen) zurückführt, hilft mir nicht weiter. Praktischer mutet mich dagegen Georg Weerths Satz an, man reise nicht billiger und nicht schneller als in Gedanken. Darum denke ich nach, was auf Reisen anders ist, was den Reiz des Reisens ausmacht. Ist es der milde Blick, der in der Fremde verzeiht, was er im Gewohnten verabscheut? Ist es die Geistes-Sucht nach Abwechslung? Ist es der Reiz des Anfangens? Ich entscheide mich, damit zu beginnen, die gewohnten Dinge neu zu sehen. Um mir dabei zu helfen, werde ich ein bisschen wegfahren: mit der Straßenbahn.
Jede Straßenbahnfahrt beginnt an einer Haltestelle, auch diese. Die Haltestelle ist wie die meisten Haltestellen, vielleicht ein wenig luxuriöser. Sie hat ein gläsernes Wartehäuschen, das sich auf dem Bahnsteig schmal macht. Es beherbergt einen Fahrkartenautomaten, den Fahrplan und vier Sitzplätze, die einem genormten menschlichen Hinterteil angepasst sind. Vor mir, zwischen den Gleisen im Schotter, wo sich zwei Cola-Dosen gegeneinander verneigen, prangt ein Spritzer Grün, ein Spitzwegerich, der mit grünen Zungen nach dem Gleiskörper leckt. Neben mir steht eine Frau. Die winzige Straßenbahn wird größer und größer. Sie ist graublau, taubenblau, meerblau und hat eine Notbremse, rot wie Klatschmohn und englische Telefonzellen, 47 Sitzplätze und 67 Stehplätze und ein rotes Hämmerchen zum Einschlagen der Fensterscheiben, rot wie die Feuerwehr, doch nur im Notfall. Was ist ein Notfall?
Ich setze mich. In den Fenstern der Straßenbahn rennen andere Fenster, die Straßenbahn rennt in den Schaufenstern, Waldfetzen ziehen vorüber, Villen hinter gezahnten Mauern trödeln, drei Birken in Efeustrümpfen nehmen im Fenster Platz. Warum sehen die Menschen in der Straßenbahn eigentlich meistens blass und ungesund aus? Liegt es am Licht?
“Immer blamierst du mich”, sagt ein Mann zu einem kleinen Jungen, der darauf anfängt zu lachen, und der nicht mehr aufhört. Das Lachen steigert sich zum meckernden Stakkato. Erst der Satz: “Sei still, du Mistkerl”, schneidet das Lachen ab. Es ist nun so still in der Straßenbahn, als würden alle Passagier e ein Lachen anhalten. Nur ein alter Mann nickt ein endloses Nicken um sich. In den Fenstern huschen Zaunfiligran und Dachspitze, Möbel-Schuh-Lebensmittel-Zigarren-Blumenläden, Metzgereien, Banken, Bäckereien, Drogerien eilen sich, Briefkästen, Litfasssäulen, Fahrradständer hasten. Der dunkelblaue Rücken des Fahrers zittert, die Wangen, die Hände, die Knie der Fahrgäste zittern. Ja, es sind Zwillinge, zwei etwa dreißigjährige Männer, die mir gegenüber Platz genommen haben. Sie sind sich so ähnlich, dass man den anderen mitzubetrachten scheint, wenn man den einen anschaut. Dennoch sehe ich beide an. Ich versuche, das Gesicht des einen als Folie über dem Gesicht des anderen zu sehen. Ich suche nach kleinen Abweichungen des einen vom anderen. Sie scheinen mein Starren nicht zu bemerken, sie schauen nirgendwo hin, wie man es in Räumen zu tun pflegt, in denen man sich zu nahe kommt. Mir wird klar, dass ich normalerweise genau wie sie nirgendwohin schaue. Aber heute bin ich eine Reisende. Reisende schauen.
“Gehts hier nicht nach Arheilgen?” fragt ein etwa dre izehnjähriges Mädchen eine alte Frau. Sie sieht aus wie jemand, den man fragen kann, ob es hier nicht nach Arheilgen gehe. Man weiß zwar längst, dass es hier eigentlich nach Seeheim geht, aber man hofft, sie sei in der Lage, jeden Ort für Arheilgen zu erklären.
“Leider nicht, du hast die falsche Bahn genommen. Hier geht es nach Seeheim”, sagt die alte Frau. In den Fenstern huschen Obstbäume und Brombeerhecken. Die Straßenbahn brummt und ruckelt, Häuser galoppieren, zügeln sich, trotten, stehn - Seeheim. Ich bin da, wo ich nicht hinwollte. Doch anders als das Mädchen, welches nach Arheilgen will und das nun mit mir an der Endhaltestelle steht, bin ich gern hier. Da ich kein Ziel habe, bin ich überall aufgehoben. Bedeutet dies Reisen: kein Ziel haben?
Hinter meinem Rücken zieht sich der kleine Ort die Bergstraße hin auf. Vor mir liegt eine winzige Grünanlage zwischen die Bundesstraße 3 und die Schienen gebettet. Die Blüten einer akkuraten Reihe Cannas züngeln rot über ein vergilbendes Gebüsch. Ein Kind reißt auf einem kläglichen Rasenstück einem Gänseblümchen den Kopf ab. Zw ei Mütter schieben plaudernd Kinderwagen über den steinigen Weg, der die Grünanlage halbiert. Ein altes Ehepaar verschnauft auf einer Holzbank. Ich setze mich neben sie. Sie sprechen über die Dinge, die sie eingekauft haben. Ich halte mein Gesicht in die Spätsommersonne. Eine Libelle setzt sich wie eine Brosche auf die Bluse der alten Dame neben mir. Wir drei auf der Bank halten die Luft an, damit das Insekt dort sitzen bleibt. Als es fortfliegt, stehen die alten Leute auf und gehen langsam davon. Ich spüre, dass sich meine Muskeln entspannen. Nicht weit von mir fließt der Verkehr in Richtung Heidelberg. Der Ort, an dem ich mich befinde, ist nicht spektakulär, noch nicht einmal schön, aber einen Moment lang bin ich wirklich hier, wirklich am Leben. Vielleicht, weil ich nichts erwarte, vielleicht aber auch, weil nichts hier geeignet ist, meine Ansprüche, meine Sehnsucht in Gang zu setzen.
Hinter meinem Rücken fährt die Straßenbahn in Richtung Darmstadt ab. Sie erinnert mich daran, dass ich eine Reisende bin. Der paradiesische Zustand, in dem ich mich eben noch befand, löst sich auf. Ich beginne, mir Bilder vom Reisen zu machen. Sie hängen sich an die Fragen: “Wo fängt der Zustand des Reisens an, wo endet er?” Bilder sind wie ein Sog, der Handlungen nach sich zieht. Ich sollte mit der nächsten Bahn zurückfahren. Doch wohin? Als Reisende trägt man Verantwortung für seine Zeit. Man wird nicht von den täglichen Verrichtungen mitgespült in das scheinbare Zeitvakuum, das sich Alltag nennt und das morgens anfängt und abends nicht endet. Als Reisende kennt man die Kostbarkeit von Minuten. Am richtigen Ort verbracht, bergen sie die Möglichkeit ungeahnter Gefühle in sich. Ich strecke die Beine aus. Nichts muss geschehen. Alles darf geschehen. Ich bin einen Tag lang Reisende. Vielleicht gelingt es mir, Reisende zu sein, weil es nur einen Tag lang dauert. Jedenfalls aber bin ich eine Reisende im Sitzen.
Ursula Teicher-Maier
Auf den Spuren Claude Monets in der Normandie
Eigentlich erinnern mich impressionistische Bilder an meinen ungeliebten Kunstunterricht in der Schule. Eigentlich fand ich immer, Monets Seerosenbilder seien im Bewusstsein vieler zu einer Art anspruchsvoller Blümchentapete verkommen. Aber auf den Spuren von Claude Monet durch die Normandie zu fahren, reizt mich dann doch. Und die dreitägige Reise ist so gelungen, dass sie sich für ein Wochenende zur Nachahmung eignet.
Sie beginnt in dem malerischen Ort Giverny, in den der Maler Claude Monet mit 43 Jahren zog. Sie beginnt im ehemaligen Hotel Baudy. In dem Haus, das heute nur noch Café ist, stiegen zu Monets Zeit viele Künstler ab – unter anderen Paul Cézanne. Wir setzen uns in den Garten des Cafés mit den himmelblauen und orangefarbenen Tischen, trinken einen Café au lait und kommen an: in Frankreich, in einem trubeligen Dorf voller Touristen, die alle wie wir in Monets berühmten Garten wollen, den er bis zu seinem Tode liebevoll gestaltete und malte. Doch zuerst schauen wir uns den Rosengarten des Hotels Baudy an. Er ist ein Augen- und vor allem ein Nasenschmaus, da er herrlich duftende alte Rosensorten versammelt. Zwischen den Rosenbüschen steht noch das älteste Atelier jener amerikanischen Künstler, die Monet nach Givery folgten und hier von 1887 bis 1914 eine Künstlerkolonie errichteten. Staffeleien, eingetrocknete Farbtuben, ein rostiges Fahrrad erwecken den Eindruck, die Maler seien erst vor kurzem abgereist. Sie, die von Monet zum Malen in seinen Gemüsegarten und in die Umgebung emittiert wurden, weil er in Haus und Garten seine Ruhe vor ihnen haben wollte.
Doch auch er eroberte sich die Umgebung des Ortes im Seinetal. An den steilen Hängen über Giverny hielt er sich tagelang alleine auf und malte beispielsweise eine Serie von Getreideschoberbildern. Eine Rangerin bietet hier geführte Gänge an und zeigt den Besuchern die zahlreichen Orchideen, die an den Wegrändern stehen. Nach diesem Spaziergang beziehen wir unsere Zimmer in der Pension La Réserve, die sich etwas außerhalb von Giverny am Waldrand befindet. Das Gebäude, das wie ein Herrenhaus aus dem 18. Jahrhundert aussieht, wurde von den Besitzern völlig neu erbaut. Die acht individuell gestalteten Zimmer, der Begrüßungstrunk auf der Wiese und auch das Frühstück an einer großen Tafel am nächsten Morgen sind ein Erlebnis besonders französischer Art.
Dann ist es so weit: Wir stellen uns in die Schlange von Menschen, die Monets Garten besichtigen wollen. Rund eine halbe Million Besucher sind es im Jahr. Und ein gefühlt beträchtlicher Teil davon bevölkert nun das Künstlerhaus und die beiden Gartenteile. In dem einen ziehen die Rosenbögen immer wieder den Blick auf das Wohnhaus Monets. Der zweite, der Seerosengarten, wird von der „japanischen“ Brücke dominiert – vielleicht, weil sie einem so bekannt vorkommt. Wie oft hat man sie in Monets Gemälden gesehen. Bei uns Betrachtern ist es ja umgekehrt wie beim Künstler: Wir schauen uns den Garten auf der Matrize der uns bekannten Gemälde an, während der Künstler Monet die Matrize Garten für seine Bilder nutzte. Im Grunde ist es beinahe so, als höben wir den künstlerischen Prozess auf und setzten unseren eigenen an seine Stelle.
Die Schlange vor dem Wohnhaus ist beträchtlich, und, endlich eingelassen, schiebt sich die Menge durch Küche, Wohn- und Schlafzimmer. Im Garten, der jetzt mit großköpfigem Mohn bepflanzt ist, wird hundertfach das selbe Motiv fotografiert. Und doch: die farbenprächtig gekleideten Besucher wirken im Garten wie eine andere, eine kostbare Blumenart.
Ganz nah am Garte n befindet sich das Musée des Impressionnismes Giverny. In seinem Restaurant stärken wir uns für die Ausstellung (bis zum 18. Juli noch: Impressionnisme au fil de la Seine). Und anschließend spazieren wir durch die Gartenanlage des Museums zu einer Wiese mit blühendem Mohn, welche von Teilnehmern eines der Malkurse abgemalt wird. Naturnahe, so wie diese Wiese, wollte Monet seinen Garten gestalten. Der heutige, artifizielle ist längst das Produkt seiner Nachfolger.
Wir fahren nun ein Stück durch das Seinetal nach Rouen. Hier, im Musée des Beaux-Arts, wird für die Zeit vom 4. Juni bis zum 26. September eine Ausstellung von über hundert Meisterwerken von Monet, Gaugin, Pisarro und anderen Impressionisten vorbereitet. Dies geschieht im Rahmen des normannischen Festival Impressionniste 2010.
Doch wir sind auf den Spuren Monets unterwegs, und die führen uns durch die Altstadt mit ihren Fachwerkhäusern zur Kathedrale. Vor der hielt sich der Künstler nämlich von 1892 bis 1894 immer wieder auf, um die berühmte Serie der Kathedralenbilder zu malen. Er zog von Haus zu Haus und bat die Geschäftsleute, von ihren Fenstern aus arbeiten zu dürfen. Um den sich schnell verändernden Lichtverhältnissen gerecht zu werden, malte er gleichzeitig an zehn Bildern. Im früheren Haus des Textilhändlers Monsieur Levy ist heute das Fremdenverkehrsamt der Stadt untergebracht. Und im Lagerraum, wo sich die Modelle für Modenschauen umzogen und Monet besessen in Richtung Kathedrale schaute, bieten nun KünstlerInnen wie Edith Mollet-Oghia impressionistische Malkurse an. Sie erklärt uns, wie wir die Grundfarben mit vielen kleinen Pinselstrichen unvermischt auftragen müssen, damit das Auge das Bild der Kirche in Licht und Schatten zusammensetzen kann – eine Aufgabe, die einer pixelbegeisterten Generation nicht schwer fallen dürfte. Und bei all der Pünktel- und Strichelei kommt der Spaß nicht zu kurz.
Über die Universitätsstadt Rouen wäre noch viel zu sagen. Dass Jeanne d’Arc hier starb und Gustave Flaubert und Pierre Corneille hier geboren wurden beispielsweise. Doch wir sind ja in Sachen Spurensuche unterwegs. Darum zieht es uns nun ans Meer nach Étretat, wo Monet und andere Maler seiner Zeit den Anblick der Kreidefelsen im Bild festhielten. Monet malte die Felsen von Étretat sechzig Mal, und dies inspirierte ihn zu den späteren Serien. Doch als wir ankommen, hat der Nebel die Felsen beinahe verschluckt. So beziehen wir erst einmal unser Hotel. Le Donjon liegt am Hang über dem Ort. Seine Besitzer haben dem Haus eine fiktive Historie verpasst Die Zimmer tragen Namen wie Pierre Loti, Sarah Bernhardt, Isadora Duncan und Claude Monet. Sie stellen durch ihre Ausstattung die Welt ihrer Namensgeber dar, traumhaft und versponnen, so wie sie sich die Hoteliers vorstellten. Darüber hinaus dichteten diese aber auch allen jenen Berühmtheiten, die niemals im Donjon abgestiegen sind, hier fiktive Begegnungen, konspirative Treffen, amours foux, an, was der Hausgast in der „antiken“ Hauspostille nachlesen kann. Das Haus ist teuer, aber der Luxus lohnt sich für eine oder zwei Nächte. Ich habe von meinem Zimmer aus einen herrlichen Blick auf das Meer mit den Kreidefelsen und den Ort. Nun kann ich die Fotos machen, die unten am Meer nicht gelangen. Und nun erlebe ich etwas, das vielleicht mit der Spurensuche zu tun hat, auf der ich mich befinde. Ich bin besessen davon, die Felsen im sich verändernden Licht zu fotografieren. Und so bleibe ich lange am Fenster sitzen und fotografiere immer wieder das selbe Motiv und muss dabei an Claude Monet denken, der sich die Aufgabe stellte, das Licht in die Bilder zu fangen.
Informationen:
Flug nach Paris (Charles de Gaules), dort Leihwagen mieten.
Anfahrt über Paris, Südumgehung N104, auf der A13 weiter bis Giverny.
Albert Einstein sagte einmal, Phantasie sei wichtiger als Wissen. Wissen sei begrenzt, Phantasie aber umfasse die ganze Welt.
Liegt es an der Luft, die vom 55 Kilometer entfernten Atlantik herüberweht? Die Stadt Nantes im Mündungsgebiet der Loire scheint bei ihren Bewohnern die Phantasie anzuregen. So zum Beispiel bei Jules Verne, der in Nantes als Sohn einer Reederstochter und eines Anwaltes aufwuchs und eigentlich schon mit zehn Jahren auf einem Schiff in die große weite Welt abhauen wollte. Die Ausgeburten seiner Fantasie sind jungen Lesern in der ganzen Welt lieb und teuer geworden. Wer möchte, kann sich in Nantes auf seinen Spuren bewegen und im Jules-Verne-Museum mehr über den Dichter erfahren.
Interessant sind aber auch seine geistigen Nachfahren François Dalarozière und Pierre Orefice, die „La Machine“ gegründet haben, einen Zusammenschluss von Künstlern, Handwerkern und Ingenieuren. Seit 1991 bauen diese auf der von zwei Loire-Armen umschlossenen „Ile de Nantes“ an versponnenen Riesenobjekten. Einige davon sind fertig, beim Bau der anderen kann man in den großen Ateliers zusehen. Da ist zum Beispiel „Le Grand Eléphant“, ein zwölf Meter hohes und 40 Tonnen schweres Ungetüm aus Stahl und Pappelholz, das wie ein Elefant schreitet, trompetet und mit dem Rüssel Wasserschwaden ins Publikum spritzt. 45 Personen können auf dem Koloss gemütlich über die Ile de Nantes reiten und sich dabei ein wenig wie Jules Vernes Romanfiguren fühlen, die sich in allerlei possierlichem Gefährt in und um die Erde bewegen. Fertig ist auch „La Princesse“, die Riesenspinne, die bereits bis nach Liverpool reiste. Im Bau sind die „Unterwasserwelten“, ein 25 Meter hohes Karussell mit skurrilen Meereskreaturen. Für 2011 ist ein überdimensionaler „Reiherbaum“ geplant. Einen Ast davon kann man jetzt schon besteigen. Allen Maschinen gemeinsam sind ein seltsam entrücktes, manieriertes Aussehen und ihre Zweckfreiheit.
Das ganze Unternehmen gehört zum ehrgeizigen Plan der Stadt, die Ile zu einem urbanen Zentrum von Nantes zu machen. Ende der 80-er Jahre stürzte Nantes mit dem Niedergang seiner bedeutenden Werften in eine Krise. Arbeitslosigkeit, sozialer Abstieg und die höchste Alkoholiker-Quote Frankreichs waren die Folge. Doch mit Hilfe aus Paris und viel Phantasie wurde die alte Hauptstadt der Bretagne langsam wieder ein kulturelles Zentrum der Region. Seit 2000 wird die Ile unter dem Architekten Alexandre Chemetoff und dem Landschaftsgestalter Jean Louis Berthomieu um- und ausgebaut. Die alten Werkstätten der Werften sind zu überdachten Passagen geworden, der ehemalige „Bananenhangar“ beherbergt nun eine Galerie für zeitgenössische Kunst, Restaurants und Cafés. Im September 2009 soll ein Kreativbereich für aktuelle Musik und zeitgenössische Kunstformen fertig gestellt sein. Die sechstgrößte Stadt Frankreichs mausert sich heute zu einem touristischen Ziel. Ausdruck dessen ist zum Beispiel der Bau eines Luxushotels im alten Justizpalast.
Ein Ausdruck der Phantasie früherer Zeit, nämlich des 19. Jahrhunderts, ist die Einkaufspassage „Pommeraye“. Die drei Galerien, die von den Architekten Buron und Gasselin barockhaft verspielt gestaltet wurden, laden zum Stadtbummel auf hohem Niveau ein. Ebenso die prächtig gestalteten Chocolaterien und Boutiquen in den Straßen ringsum. Und ganz am Ende jenes Jahrhunderts, im April 1895, wurde „La Cigale“ eröffnet. In der beeindruckenden Jugendstil-Brasserie treffen sich Künstler und die Schauspieler des Théâtre Graslin, gerade gegenüber. Von Jean-Louis Trintignant wurde sie als die schönste Brasserie der Welt betitelt. Dem Namen entsprechend, findet man in den von der Decke bis zum Fußboden mit Intarsien, Fresken und Mosaiken ausgestatteten Räumen, immer wieder Abbildungen von Zikaden. 1961 wurde hier der Film „Lola“ gedreht.
Auch im Schloss der Herzöge der Bretagne, dessen Bau im 15. Jahrhundert begann, zeigt sich heute die Phantasie der Nanteser. Im multimedial ausgestatteten städtischen Museum wird die Geschichte der Stadt kurzweilig präsentiert. Ein Beispiel dafür ist die Installation Piercick Sorin, ein Laufband mit Szenen der Stadtgeschichte, auf dem alle Personen nur vom Künstler selbst dargestellt werden. Für die nächtliche Lichtinstallation am Schloss wurde die Stadt mit dem europäischen Preis „Lumiville“ 2007 ausgezeichnet.
Ob beim Gang durch das ehemalige Sklavenhändler-Viertel der Stadt, beim Bummel durch die Altstadt oder in einem der Szene-Restaurants hier und auf der Ile de Nantes, immer erinnert einen die Stadt an Albert Camus Gedanken, die Phantasie tröste die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein könnten.
Ursula Teicher-Maier
Informationen:
Der Flughafen von Nantes (Nantes-Atlantique NTE) wird von einigen Fluglinien angeflogen.
Das Klima ist im Winter feucht und relativ mild. Jahresdurchschnitt: 11,9 °, in den Wintermonaten deutlich über 0°.
Was kann man im Winter in einem Ferienhaus an der bretonischen Küste tun?
Zum Beispiel nichts. Oder die Sagen der Gegend lesen.
"Der Schlüssel liegt unter der Matte." Dieser Vertrauen erweckende Satz steht auf dem Informationszettel des Reiseveranstalters. Auf der Matte liegt ein Stein. Das Haus gehört zu einem Gehöft, das in vier Ferienhäuser umgewandelt wurde und steht im Weiler Kerdréal über der Bucht von Audierne. Bei unserer Ankunft glimmt im Kamin bereits ein Scheit. Neben dem Kamin kauern dickbäuchig und beruhigend zwei Säcke Holz.
Ausdrücklich empfohlen wird eine Winterreise in die Bretagne von keinem der gängigen Reiseführer. Nach der Statistik muss von Dezember bis März mit zehn Sturmtagen im Monat gerechnet werden. Im Katalog des Reiseveranstalters "Inter Chalet" werden weniger als ein Drittel der Häuser in der Bretagne auch im Winter angeboten. Sie sind dann allerdings nur halb so teuer wie im Sommer.
Vom Balkon aus hat man einen weiten Blick über die Bucht und den Atlantik. Der zeigt sich bei unserer Ankunft von seiner sanften Seite. Die Wasseroberfläche ist zart gekräuselt und weit draußen blitzen Sonnenstreifen. Doch der Balkontisch ist mit den Füßen im Boden verankert; das weist auf häufige starke Luftbewegung hin. Und vermutlich, damit sie nicht zu Windgeschossen werden, stehen die Balkonstühle im Wohnzimmer. Der Pflanzenbewuchs der fünfzig Meter hohen Dünen vor dem Haus ist eingerostet. Aus dem Braun leuchten wie Lampions die ersten Ginsterblüten. Niedrige Steinmauern ziehen sich skelettartig durch das Gestrüpp. Unten am Meer, auf dem alten Zöllnerpfad, dem Sentier Côtier, der sich fast an der gesamten Bucht von Audierne entlang zieht, laufen zwei einsame Jogger.
Das Haus empfängt uns nicht nur mit einem Feuerchen, sondern auch mit einem zarten Piccoloflöten-Konzert. Spieler ist der Wind, der sich in den Dachhöhlungen fängt. Ab und zu steuert der Kamin ein schwaches "Huuh" bei. In der Nacht dann übt die Piccoloflöte schrill immer wieder den selben Intervall, der Kamin stöhnt und das Meer brüllt. Bisweilen wehklagt eine Heulboje von Audierne her. Von Stille kann hier keine Rede sein.
Am nächsten Morgen hat sich draußen die Grenze zwischen Himmel und Meer aufgelöst. Die Wellen bewegen sich wie in Zeitlupe aufs Ufer zu. Die Möwen stehen in der Luft, rütteln bisweilen wie Falken mit den Flügeln. Unter der Balkonbrüstung gehen dicke Tropfen spazieren oder hängen träge am Geländer. Bücher und Zeitungen rücken in den Mittelpunkt des Interesses. Meeressagen werden vorgelesen, unter anderen die von der untergegangenen Stadt Is. Ein keltisches Sündenbabel muss sie gewesen sein, jene Stadt, die sich angeblich, von riesigen Schleusen geschützt, vor der nahen Hafenstadt Douarnenez über den jetzigen Meeresgrund erstreckte. Den Untergang von Is besiegelte, wie könnte es anders sein, der Leibhaftige. Er gab sich nämlich als feuriger Liebhaber aus und schwätzte beim Tête-à-tête der Tochter des legendären Königs Gradlon den goldenen Schleusenschlüssel ab, welcher normalerweise auf Gradlons königlicher Brust baumelte. Das Ende kam plötzlich in Form einer Flut, und nur der wackere Herrscher konnte sich auf dem Rücken seines Wasserrosses Morvarc´h vor ihr an Land retten. Der heilige Gwennolé half ihm dabei, indem er ihn überredete, die sündige Tochter wie Ballast ins Meer zu stoßen.
König Gradlons Existenz bewegt sich zwischen Mythos und Historie. Vermutlich lebte er im fünften Jahrhundert, also zur Zeit der Christianisierung der Bretagne durch aus Irland einwandernde keltische Missionare, die zu Legenden wurden - wie die Heiligen Gwennolé und Corentin. Immer wieder werden in Mythen und Sagen der Gegend die Ablösung der alten Naturreligion durch das Christentum verarbeitet. Eigentlich hatten schon die Römer, welche Armorika, die heutige Bretagne, im Jahr 56 v. Chr. unterwarfen, die angesehene Priesterkaste der Druiden zu entmachten versucht. Und einige römische Götter und Halbgötter gingen, leicht verwandelt, in die keltische Mythologie ein. Doch erst die Re-Keltisierung über den Ärmelkanal und die kluge Assimilation keltischer Riten und Glaubensinhalte durch die frühen Christen veränderte im Laufe der Jahrhunderte nachhaltig die keltische Kultur. Eine humorvolle Mischung aus magischer Naturverbundenheit und katholischem Pathos ist bis heute die Folge.
Am folgenden Tag hat sich die Feuchtigkeit draußen noch verstärkt. Alles tropft: das Efeu, das über die Grundstücksmauer lappt, der Balkontisch, die stacheligen Köpfe der Disteln, Dachrinnen, Wäscheleinen, der Briefkasten, die Autoantenne. Die Flechten am Haus scheinen sich stündlich zu vermehren. Heere von Tropfen marschieren an der Wäschestange auf. Der Keilriemen zwitschert vor Nässe, als wir zum Intermarché fahren.
Das Städtchen Audierne, das auf bretonisch "Gwaien" heißt, lagert westlich der Mündung des Goyen, der seine Tiefe mit Ebbe und Flut stark verändert. War der Ort früher ein bedeutender Fischereihafen, so leben seine Einwohner heute vorwiegend vom Sommertourismus. Jetzt im Winter wirkt er still. Seine Attraktionen, die Viviers, jene großen Fischbecken, in denen etwa dreißig Tonnen Meeresfrüchte auf ihren Verkauf warten, und das Planète Aquarium, in dem Vögel und Fische der Region gezeigt werden, sind geschlossen. Die Armada von Segelbooten liegt bewegungslos im Hafen. Manche der Restaurants und Cafés am Hafen renovieren jetzt. Wir trinken in einer gemütlichen Bar an der Hafenmole einen Kaffee. An den Wänden hängen Bilder einheimischer Künstler. Ein älteres Ehepaar sitzt am Nachbartisch und schlürft ein Dutzend Austern. Als wir zurückkehren, wendet sich ein Regenbogen dem Meer zu. Die Wolken haben es plötzlich eilig. Sie rennen in Richtung Atlantik. Dort versammeln sie sich zu Herden. Der Wind hat sich gedreht, das verheißt trockenes Wetter.
Anderntags leuchtet das Meer smaragdgrün herauf. Die Luft ist schneidend kalt. In der Hecke vorm Haus schmettern zwei Zaunkönige um die Wette. Auf dem Gras vor dem Haus liegt eine Reifschicht, und der frisch gepflügte Acker dahinter hat ein schwarz-weißes Streifenmuster bekommen. Unten am Strand sind ameisengroß ein Dutzend Wellenreiter zu sehen. Wir steigen den steilen Pfad hinunter und sehen ihnen zu. Sie stecken in schwarzen Neopren-Anzügen, doch ihre Hände und Füße sind ungeschützt. Die Wassertemperatur sinkt hier dank des Golfstroms nicht unter neun Grad. Die Flut setzt ein, doch noch sind die Riffe zu sehen. Sie tragen schwarze Miesmuschelbärte. In den Löchern und Vertiefungen bleiben auch bei Ebbe kleine Tümpel zurück, in denen winzige Fische, Krebse und Seesterne leben. Die Riffe sind übersät von Napfschnecken. Jede hat ein anderes Muster; viele sind kariert. Sie erinnern an die Karostoffe der Schottenröcke. Und überall schwarze klebrige Kleckse, die an die diversen Tankerunglücke der letzten Jahre erinnern. Am Ufer liegt viel Angeschwemmtes. Der Bunker am Ende des Strandes erinnert daran, dass Landsleute von uns vor sechzig Jahren zwei Drittel der Kiesel der Audierner Bucht für ihren "Westwall" zu Beton verarbeiten ließen.
Heute ist Sonntag. Am Nachmittag erscheint der Sentier Côtier plötzlich so belebt wie die Strandpromenade von Norderney. Wir bleiben oben im Haus und blicken auf die Spaziergänger hinab. Nach wenigen Tagen schon schauen wir mit den Augen von Ortsansässigen, die Fremde als Eindringlinge empfinden. Als habe irgend ein Mensch ein Anrecht auf etwas so Langlebiges wie ein Stück Land oder ein paar Quadratkilometer Meer.
Die Sonne geht kurz vor sieben unter. Wenn wir den Blick dann erwartungsvoll nach Westen wenden, fällt uns Heinrich Heines "Fräulein am Meere" ein. Und doch, es ist schwer, nicht zu seufzen. Vom "Blutsegel" schrieb Paul Celan in seinem Gedicht "Matiére de Bretagne". Ein Bretone würde vielleicht behaupten, die Nixe Marie-Morgane kämme sich über dem Meer ihr rotes Haar und singe dabei in alter Sprache herzzerreißende Klagelieder, was den Fischern einen Heidenschreck einjage, denn der Gesang kündige Sturm an. Mittlerweile wissen wir, dass es sich hier um die keltische Meeresgöttin Morgane handelt. Oder um Ahès-Dahut, die in den Fluten umgekommene Tochter König Gradlons, die auf ihre Erlösung wartet.
Am nächsten Morgen ist es wieder trocken und sonnig. Beim Öffnen der Fenster huscht eine Eidechse die Hausmauer hinab. Die Gunst der Stunde muss genutzt werden: Wir waschen Wäsche. Und nachdem sie ein paar Stunden hurtig am Reck geturnt hat, ist sie bretttrocken und duftet nach Atlantik. Wir sitzen derweil im Windschatten auf der Terrasse und beten die Sonne an. Die Gedanken verlangsamen sich; ihre Geschwindigkeit nähert sich den Elementen an. Der Atlantik sieht aus wie ein großer See. Keine Welle unterbricht die spiegelnde Fläche. Der Horizont verschiebt sich in die Vorstufe der Unendlichkeit.
Am Nachmittag fahren wir an der Küste entlang nach Süden. Zwischen dem Ort Penhors und der Pointe de la Torche trennt ein Gerölldamm den Strand von einer Riedlandschaft mit kleinen Étangs. Wie vom Meer zurückgelassene große Pfützen liegen sie hinter dem Damm und spiegeln Gehöfte, Schilf und den Himmel. Etwas landeinwärts dann die Kirche Notre-Dame de Tronoën mit dem ältesten Calvaire der Bretagne. Er zählt hundert Figuren und stammt aus der Zeit zwischen 1450 und 1460. Zu ihnen gehört eine liegende barbusige Maria, die, wie die anderen Figuren dieser Biblia pauperum, ihren Charme vor allem durch Verwitterung und eine Patina aus gelben Flechten erhält. Der Besitzer des Nachbargrundstücks der Kirche nutzt den Besucherstrom und bietet mit viel gesalzener Butter gebackene Kekse an.
Ein paar Kilometer weiter südlich reckt sich die Felshalbinsel Pointe de la Torche ins Meer, vor der sich die Segel zahlreicher Fun-Board-Surfer im Wind blähen. Es folgt der Ort Penmarc'h am südlichen Ende der Bucht von Audierne. Auf den Felsen von Penmarc´h starb, der Sage nach, einst Tristan. Er hatte, schwer verwundet, die geliebte Königin Isolde aus Cornwall hergebeten, damit sie ihn heilen möge. Als Zeichen für ihre Ankunft per Schiff war das Hissen eines weißen Segels verabredet. Doch seine Frau, die unglückliche Isolde Weißhand, betrog ihn um seine letzte Hoffnung. Er, schon zu schwach, um zum Hafen zu eilen, ließ sich von seinem Weib das herannahende Schiff genau beschreiben. Und sie, eine eifersüchtige Frau, hatte natürlich längst den Braten gerochen und zeigte einmal wieder, dass Worte töten können: Das Segel sei schwarz, sagte sie zu ihrem Mann, der hierauf dreimal "Isolde" seufzte und dahinschied.
Vermutlich der keltischen Mythologie entstammt der Tristan-Stoff, der mit dem Artussagen-Stoff eng verbunden ist. Seit dem fünften Jahrhundert in Armorika mündlich überliefert und seit dem siebten Jahrhundert von irischen Mönchen gesammelt und niedergeschrieben, vereinten beide Stoffe im Laufe der Zeit mythologische, soziale, christliche und höfische Elemente. Ob diesseits oder jenseits des Ärmelkanals, überall fanden sie Orte, an die sie sich banden.
Die kleine Notre Dame de la Joie könnte an der Stelle stehen, an der Isolde Ausschau nach der übers Meer heraneilenden Nebenbuhlerin hielt. Wie zum Ablegen bereit, steht die Kirche am Kai. In ihrer Nähe der massige Phare de Eckmühl. Er sendet seine Lichtblitze 50 Kilometer über die Bucht.
Auf dem Rückweg trinken wir in der Hafenbar des kleinen Seeortes Poulhan ein Glas Cidre. Er wird hier überall aus dem Hahn gezapft. Wir sind, wie meist, die einzigen Fremden. Die Männer an der Theke tragen Arbeitskleidung und haben vom Wetter gegerbte Gesichter. Sie sprechen nicht viel, gehen stattdessen einem Glas auf den Grund.
Immer abends gegen neun kommt es uns vor, als würde das Meer plötzlich lauter. Vielleicht sind es aber auch nur unsere Ohren, die sich auf Nachtbetrieb umstellen. Doch heute Abend brüllt sich das Meer die Seele aus dem Leib. La tempête kündigt sich an, der Sturm. Regen klatscht wie mit Händen geworfen an die Fensterscheiben. Alles, was im Haus eine Stimme hat, singt in den höchsten Tönen. An Schlaf ist nicht zu denken - trotz der mitgebrachten Ohrstopfen.
Am nächsten Morgen hat es dem Nachbarn ein Stück Schornstein vom Dach gerissen. Ein auf dem Balkon vergessener Stuhl streckt alle viere von sich. Ansonsten ist alles stehen geblieben. Doch es ist immer noch sehr windig. Die Wäscheklammern auf der Leine tanzen Cancan. Und den Kamin in Gang zu setzen, gleicht heute einer Wissenschaft. Unten am Strand sammeln Männer in neongrünen Overalls Teerklumpen, Flaschen, Schiffsplanken, Gummistiefel und allerlei Totes in schwarze Plastiksäcke. Zwei Hubschrauber fliegen aufs Meer hinaus. Wir schauen ihnen unruhig hinterher. Morgen werden wir in der Zeitung lesen, dass zwei Fischer ums Leben gekommen sind.
Heute ist der richtige Tag für einen Ausflug zum nördlichen Ende der Bucht von Audierne, zur Pointe du Raz. Sie gehört zu den bekanntesten Kaps der Bretagne. Wer es wagt, in ihren Felsen herumzukraxeln, bewegt sich auf den Spuren der großen Sarah Bernhardt. Die Mimin fühlte sich an diesem dämonischen Ort so wohl, dass sie sich eine Meditationsnische in den Granit meißeln ließ.
Auf dem Parkplatz stehen etwa fünfzig Autos. Im Sommer sind es über fünfhundert. Zwischen Parkplatz und Kapspitze pendelt ein Bus durch eine Mondlandschaft. Der Leuchtturm und eine Statue - Maria als Stella maris - sind zu umgehen. Dann vor uns nur noch schroff ins Meer bröckelnde Felsen. Tief unten schäumt der Atlantik, und der Wind rüttelt knatternd unsere Öljacken durch. "Hölle von Plogoff" heißt eine der Felsspalten, in denen das Meer stöhnt und dröhnt. Sie ist einer der Orte, in die einst die Tochter des Königs Gradlon ihre abgelegten Geliebten werfen ließ. Und wenn ein Bewohner Armorikas stirbt, so berichtet eine andere Sage, will seine Seele übers Meer zum Bro ar Re Yaouank segeln, zum Land der ewigen Jugend, das hier in Richtung Westen vor der Küste liegt. Blondzöpfige Feen erwarten auf diesem Eiland die Seelen und singen sie in durchsichtigen Palästen in den Schlaf. Und wenn wir regungslos und mit Tunnelblick auf den weiten Ozean schauen, fällt vielleicht gerade der Schatten des übernatürlichen Lichtes auf uns, das die Seelen am Ufer empfängt und in dem sich angeblich all ihre Unreinheit auflöst. Ein paar Möwen lassen sich vom Wind über unsere Köpfe treiben und lachen uns mit kehliger Stimme aus.
Abends steigen wir noch einmal hinunter zum Meer. Die Sonne fingert dramatisch durch die Wolken am Horizont. Wir sind in wenigen Tagen ruhiger geworden. Unsere Bedürfnisse richten sich auf Einfaches wie diesen Spaziergang, ein gutes, selbst gekochtes Essen, den Blick ins Kaminfeuer. Vielleicht liegt es daran, dass in dieser Jahreszeit hier wenig Spektakuläres passiert. Vielleicht ist es aber auch das Meer, das mit seinen langatmigen Rhythmen unsere verlangsamt. Von der Meermühle schrieb Paul Celan in seinem Gedicht "Le Menhir". Bisweilen ist das, was da gemahlen wird, größer als zuvor.
Ursula Teicher-Maier
Informationen:
Sagen:
In der Bretagne boomen in den letzten Jahren die Angebote von Sagen-Erzählern. In vielen Orten kann man Spaziergänge in Verbindung mit Musik und/oder einem Sagen-Erzähler buchen. Voraussetzung, um diese Spaziergänge genießen zu können, ist perfektes Französisch. Die meisten Angebote beschränken sich aber auf die Sommermonate. Wer stattdessen gute alte Familientraditionen aufleben lassen will, findet beinahe in jedem Zeitschriften-Laden ins Deutsche übersetzte Sagen-Sammlungen der jeweiligen Region zum Lesen und Vorlesen (z. B.: Pierre-Jakez Helias, Meeressagen, Ed.s d’Art, Jos le Doare, 29150 Chateaulin).
Anreise:
Am schnellsten und bequemsten ist es, nach Quimper, Lorient oder Brest zu fliegen und von dort aus mit dem Leihwagen zum Quartier zu fahren.
Per Autobahn fährt man über Paris und sollte die Süd-Umgehung benutzen (N 104).
Buchungen:
Das beschriebene Haus und gleichwertige Angebote findet sich bei „Inter Chalet“, aber man kann auch bei anderen Haus-Anbietern und über das Internet (z. B.: www.plouhinec-tourisme.com) schöne Häuser buchen.
Das in Flutlicht getauchte Schloss von Sablé sur Sarthe spiegelt sich kokett im Fluss. Zu seinen Füßen liegt die Flotte von Hausbooten im kleinen Hafen. Die meisten Freizeitkapitäne sind nun in ihren Booten verschwunden. Nur die Besatzung des Nachbarbootes ist schweigsam und reglos wie eine Büstensammlung in den Kajütenfenstern zu sehen. Bis auf das beständige Rauschen der nahen Staustufe ist jetzt um halb elf am Fluss kaum noch etwas zu hören. Bisweilen knarrt eine Bootswand am Bootssteg. Ganz selten fährt ein Auto in der Nähe vorbei. Die Hafenbar ist zwar noch beleuchtet, doch kein Geräusch dringt nach draußen. Unsere erste Nacht auf dem Hausboot bricht an. Wir steigen in die Kajüten hinab. Sie liegen so dicht beieinander, dass man die Atemzüge des Nachbarn hören kann.
Um fünf schlagen die Vögel am Fluss gegen das Rauschen des beginnenden Berufsverkehrs an. Zwei Stunden später frühstücken wir gemütlich an Deck. Die Farbe des Flusses hat am Morgen von Schwarz nach Braun gewechselt. Über ihm ragt eine Zeder bizarr aus der Stadtsilhouette heraus. Eine alte Brücke malt mit ihren Bögen fast perfekte Kreise am Wasserspiegel. Unser Boot ist für sechs bis acht Flussreisende vorgesehen. Es hat drei Kajüten. Zwei davon können nur kriechend belegt werden. Die dritte, mit Teppichboden und Spiegeln ausgekleidet, ist größer. Neben den Kajüten sind zwei Toiletten. Der Wasserhahn, aus den Waschbecken gezogen, fungiert auch als Duschkopf. Das zehn Meter lange Boot hat ein Sonnendeck mit einem zweiten Steuer. Dadurch ist es ziemlich hoch und kann nicht alle Brücken des Flusses passieren. Dies erklärt uns Christoph, ein Angestellter der Reederei, der am Morgen mit der für die Gegend normalen Verspätung von einer halben Stunde auf dem Bootssteg erscheint, um uns die Navigation beizubringen. Allerdings auf Französisch. Immerhin liegt neben dem Steuer das Navigationsbuch, ein wetterfester Plastikordner. Darin kann man noch einmal in Ruhe alle Regeln nachlesen. Einen Führerschein benötigt man nicht für die meisten Hausboote auf der Sarthe, jenem in die Loire mündenden Flüsschen, auf dem wir in den folgenden Tagen schippern werden.
Die wichtigsten Regeln sind schnell gelernt: Zwei gelbe Rhomben zeigen die Fahrrinne an, ein schwarzer Pfeil leitet das Boot in der Höhe von Staustufen zu den Schleusen. In der Regel ist in der Flussmitte zu fahren. Zum Steuern braucht man ein wenig Erfahrung. Das Boot reagiert mit Verzögerung, jedoch heftig auf Steuerbewegungen. Zum Glück ist es rundum mit Gummifendern ausgestattet, die den Aufprall an Bootsstegen oder Wänden von Schleusenkammern mildern. Beruhigend wirkt auch die Vorstellung, dass es nur eine Höchstgeschwindigkeit von zehn Stundenkilometern hat.
Nach einer einstündigen Unterweisung geht es los. Die erste Brücke ist leicht passiert. Eine farbenprächtige Ruderregatta eilt, als wir kommen, zackig dem Ufer zu, wo Trauerweidenzweige im Wasser gründeln. Der Sprungturm eines Schwimmbades ist das letzte Zeichen der Stadt. Danach säumen Lilien die Ufer, und Teichrosen recken ihre Schlangenhälse mit dem gelben Blütenkopf. Dahinter Gebüsch, an kleinen Stegen vertäute Holzkähne und Rinder, die bisweilen halsbrecherisch auf der überlappenden Grasnarbe knien, um zu trinken. Ein Enterich überholt rätschend das leise tuckernde Boot. Ein Reiher auf einer Pappel schaut mit eingezogenem Kopf auf uns herab. Dann begleitet er uns mit schwerem Flügelschlag ein Stück. Ein Herrensitz lugt zwischen üppigem Grün hervor.
Vor Schleusen ist zweimal zu hupen. Die Schleusenmeisterin kommt aus dem Haus und öffnet die schweren Tore - hier auf der Sarthe noch manuell. Die ganze Prozedur dauert lange, da immer nur ein Torflügel bewegt werden kann und die Éclusière mehrmals um die ganze Schleuse herumgehen muss. In der ersten Schleuse ratscht unser Boot noch mächtig an den Wänden entlang. Nun muss es von der Mannschaft mit Hilfe herabhängender Seile an einer Schleusenwand festgehalten werden. Als der richtige Wasserstand erreicht ist, verlässt es schwänzelnd und noch einmal kräftig an beide Wände krachend die Schleuse. Wir fahren durch einen schmalen Kanal. Hier ist eine Höchstgeschwindigkeit von vier Stundenkilometern vorgeschrieben. Blaue Libellen stehen wie Wimpel an Gräsern. Das Boot schnurrt friedlich. Sonnenkringel glitzern auf dem grünschimmernden Gewässer, dessen wild überwucherte Ufer eilig weghuschende Blesshühner einfangen und wieder freigeben.
Auf der rechten Seite taucht der große graue Bau der Abtei von Solesmes auf. Mit der Strenge einer alten Fabrikhalle vermittelt sie erst bei näherem Hinsehen einen klerikalen Eindruck. Doch bevor wir zu ihr hinaufgehen können, gilt es, das Boot an den Pollern sicher zu vertäuen. Die Klostergebäude von Saint-Pierre-de-Solesmes sind dem weltlichen Besucher verschlossen. Vor ihren Toren segnet ein efeuumrankter Engel ein Beet mit fleißigen Lieschen. Daneben im Pförtnerhaus kann man sich anhand von Fotografien und einem Klostermodell einen Eindruck vom Lebensraum der Benediktiner machen, deren Gesänge das Kloster seit hundert Jahren zum Zentrum der Gregorianik in Frankreich gemacht haben. Die Mönche betreten für die Stundengebete kahlgeschoren und in der schwarzen Robe des Ordens die Kirche. Ihre Choräle und ihr minutenlanges Schweigen füllen das Gebäude aus dem vierzehnten Jahrhundert.
Zurück auf dem Fluss haben wir Einblicke in blühende Gärten, dann Auwald, der den Wind hörbar macht. Ein anderes Hausboot kommt uns entgegen. Zwei Grünspechte fliegen steuerbords. Am Ufer sitzen bisweilen Angler stoisch aufs Wasser schauend, von Kühltaschen flankiert, manchmal von Frau und Kind. Sie winken dankbar herüber, wenn wir im Bogen um sie herumfahren. Rechts steht ein Herrensitz hoch über dem Fluss, links ein anderer, der von landwirtschaftlichen Gebäuden umringt ist. Dann wieder eine Schleuse mit einem Haus, das mit seinen Spitzengardinen in den Fenstern, den Blumenrabatten und der flatternden Wäsche so adrett wie alle anderen Schleusenmeisterhäuser aussieht. Und ein weiteres Schloss kurz vor dem Ort Juigné, wo wir anlegen, weil der Magen knurrt.
Schwalben fliegen schnell wie sichtbar gemachte Pfiffe durch die menschenleeren Straßen des Dorfes. Doch der einfache Gasthof ist gut besucht. Nach einem opulenten Menü ist auf dem Boot ein Mittagsschlaf unumgänglich, zumal die nächste anzusteuernde Schleuse noch geschlossen sein wird - den Éclusiers steht eine staatlich verordnete Mittagspause zu.
Auch der Ort Sablé sur Sarthe wirkt wie ausgestorben. Doch der Aushänger einer Boule-fort-Anlage weist auf Lebendiges hin. Hier in einem langen barackenartigen Raum spielen die Honoratioren des Ortes das eigenartige Boule-Spiel der Gegend, das auf den Flusskähnen des Vendée entwickelt worden ist. Da die Kugeln nicht ins Wasser fallen durften, musste auf einer rinnenförmigen Bahn gespielt werden, und auch die Kugeln haben dadurch, dass ihr Schwerpunkt auf eine Seite verlagert ist, immer die Tendenz, nach innen zu rollen. Die alten Männer betreten die empfindliche, dreiundzwanzig Meter lange Kunststoffbahn mit Hausschuhen und setzen die Kugel wie ein rohes Ei auf, und diese torkelt auf wundersamen Umwegen zum Ziel. Dass man sich hier auf das Spiel versteht, zeigt eine stolze Reihe von Pokalen.
An der Staustufe von Sablé verfällt eine Mühle malerisch. Eine andere steht gegenüber der nächsten Schleuse, dann links ein großes Schloss. Ein blauer Pfeil fliegt am Ufer entlang: ein Eisvogel, ein zweiter, ein dritter. Der Fluss ist nun so spiegelglatt, dass sich die Enten im Flug verdoppeln. Ebenso die Landschaft. Wie in einem Klecksbild wird Oben und Unten austauschbar. Rechts stehen Pappeln in Reih und Glied, links wechseln sich Gebüsch und Weideland ab, später kehrt sich auch dies um. Ein Ballett von Strommasten nimmt die Illusion, Raum und Zeit entronnen zu sein.
Es ist Abend, und wir legen an einem Steg an, der ein Hinweisschild auf ein Restaurant trägt: L' Auber ge des Acacias. Sie liegt im Weiler Dureuil. Die Pächterin Yvonne Chevallier, eine Deutsche, die das Restaurant mit ihrem französischen Mann betreibt, begrüßt jeden Gast und berät beim Studium der kleinen aber feinen Speisekarte. Im Gärtchen der Auberge tischt sie dann ein Menue auf, das genauso gut schmeckt, wie es klingt: pigeonneau du Maine aux sept poivres et sa garniture du moment - poêlée de langoustines bretonnes et rouelle de tête de veau en ravigote de poiveaux nouveaux und einen Nachtisch, der einem Gemälde gleicht. Nach dem Essen plaudert Madame Chevallier über die Gegend. So über den Weinproduzenten Monsieur Damicour, den Besitzer des großen Schlosses, das wir am Fluss gesehen haben. Er isst bisweilen bei ihr und schwätzt ihr schon einmal eine Flasche seines eigenen Weines, den sie ausschänkt, umsonst ab, um damit die anderen Gäste zu bewirten. Dass es hier wenige Deutsche gebe, erzählt sie, und überhaupt wenige Ausländer, nur Pariser. Die liebten die Ruhe der Gegend, zumal sie nur zwei Stunden Anfahrt hätten. Und dass viele der Schlösser hier an der Sarthe noch im Besitz des alten Adels seien. Nach dem Essen geht es die hundert Meter zum Boot zurück. Am Fluss ist es still - bis auf den Klangteppich der Grillen und das Patschen kleiner Wellen an den Bootssteg.
Am nächsten Morgen leuchten Mückenschwärme über dem Wasser. Nach dem Frühstück brechen wir auf. Es ist windig und es wird immer schwerer, das Boot gerade zu halten - besonders beim Navigieren vor und nach der Schleuse bei Malicorne. Wir sind froh, als wir am Ort angelegt haben. Der Ort ist durch das Töpferhandwerk bekannt, das hier schon seit der Römerzeit betrieben wird. Wir besichtigen eine der Fayencerien von Malicorne. Der Sohn der Firmeninhaber erklärt anhand der ausgestellten Stücke, dass die Töpfer von Malicorne, deren berühmtester Jean Loyseau gewesen sei, in großer Perfektion die Stile des alten Quimper, von Rouen und von Le Moustiers kopiert, jedoch nie einen eigenen Stil entwickelt hätten.
Wieder auf dem Fluss, ist uns die nächste Schleuse gewiss. Doch Übung macht auch hier den Meister und einige Unbeholfenheiten werden vom Éclusier höflich dem Wind zugeschrieben. Nur einmal noch, in einem Kanal, wird es schwierig: Die Schleuse ist besetzt, und am Anleger liegt ein anderes Boot. Als wir die Geschwindigkeit drosseln, legt sich unser Boot quer und schlägt ans Ufer. Ein Regenguss tut das Seine, die Mannschaft wie begossene Pudel aussehen zu lassen. In Noyen sur Sarthe legen wir für die Nacht an. Wir könnten weiterfahren, denn es ist erst später Nachmittag und die Schleusen sind bis Acht geöffnet. Doch die Ruhe des Flusses, die unspektakuläre Stille der Landschaft macht uns bedürfnislos. Wir sind bisher zweiunddreißig Kilometer gefahren und sind dabei nur wenigen anderen Hausbooten begegnet. Hundertdreißig Kilometer des Flusses sind schiffbar: die Strecke zwischen Angers und Le Mans. Wir werden morgen zurückkehren.
Ursula Teicher-Maier
Anreise: Über Paris auf der Autobahn A 11; über Paris mit dem Hochgeschwindigkeitszug TGV ab Bahnhof Montparnasse (Paris - Le Mans 1Std, Paris - Angers 1, 5 Std).
Haustiere sind in den Booten willkommen, dürfen jedoch nicht auf Polstern oder Betten sitzen.
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