BERSERKER

Berserker, Bronzeklotz, da stehst du, von Tauben bekleckert, auf dem Marktplatz in deiner Berserkerwut, in deinem stiernackigen Ansturm – nicht bärenfellhemdig, wie das Wörterbuch nahelegt – viehnackt erstarrt, du bronzener Inbegriff von Gottweißwas. Ich sah dich schon bei manchem Künstler. Ich kenne dich von Barlach. Wie? Mit Schwert? Und als Schreitende Figur von Thesing, zu einem Buche, Mensch im Dunkeln. Du Mensch im Dunkeln. Dumpfe, bucklichte, erbärmliche Kreatur. Kumpan der Suffköpfe der Stadt, in der die Künste leben. In der die Künste leben: Das Volk gestaltet mit, streicht deine Fingernägel grün, sprüht deinen Pimmel rot, quetscht dir die Pepsi-Dose in die Hand, legt dir den Scheißhaufen unter. Kunstwerk im Prozess. Wärst du eine sinnige Nackte wie vor der Bibliothek, gar eine bronzene Venus, sie bestrichen dir, respektive ihr, den Triangolo dolcissimo mit Fliegen lockender Marmelade: brummender, summender Andromeda-Nebel. Kreatives Volk. Du aber bist keine Venus, bist ein Musterbild des Unerotischen. Nur ein Männer hassendes Weib sollte dich geschaffen haben können. Oder ein Mann mit männliches Vermögen übersteigender Selbsterkenntnis. Was willst du, Inbegriff blinder Raserei? Dreinschlagen? Draufhauen? Zertrampeln? Was soll ich dir in die gichtige Rechte geben? Was hast du vor, der du die Kaufhäuser geduckt anvisierst? Was hast du vor für den Fall, dass du dich endlich lösest von deinem Podest? Brauchst du den Hammer, die Handgranate, die Fackel, wenn du mit Tante Else und Frau Hempel zu den Schlussverkauf-Wühltischen stürmst? Wir wissen doch von Degenhardt: Besser ein Kaufhaus anzünden als sich selbst anzünden. Und du brennst ja auch nicht. Barlachs Wanderer gegen den Sturm – ja, das war’s. Der weiß, wogegen er ausschreitet. Sein Mantel steht schräg. Du aber. Tritt dein rechter Fuß auf Trümmer? Herr Grzimek, der Meister, wird’s wissen. Willst du zerschlagen, was auferstanden aus Ruinen? Bist du der Ba’al der Trümmer? Stürmst du nicht in Richtung Langer Ludwig? Lass Darmstadt stehn, es boomt so schön. Es war schon einmal ganz kaputt. Und, hier leben die Künste, sagt man. Was soll ich mit dir anfangen? Wir können dich nicht brauchen, du konsumierst nicht. Du gehörst um 180 Grad gedreht: Dann bist du auf der Flucht. Nicht vor dem Feuersturm wie damals meine Großmutter. Du gehörst umgebaggert, du Archetyp, damit wir nicht an unsere Berserkerwut denken müssen.

 

 

 

IM GETÖSE

Bei der Güterabfertigung ist heute Flaute. Der Mann geht ein paar Schritte aus der Halle und blickt die leere Straße hinauf und hinunter, die in der Sonne dampft. Da sieht er – wie gerade erst gestern – den Bub. Wieder drückt der sich verstohlen an der Hauswand gegenüber entlang, und auch diesmal zu einer Zeit, in der Kinder eigentlich in der Schule sein müssten. Er bewegt sich wie mit schlechtem Gewissen in Richtung des Brachwinkels zwischen den Schienen, wo ausrangierte Waggons für die Gleisarbeiter stehen. Der Mann tritt zurück in den Schatten der Frachthalle. Was würde wohl vorgehen in diesem strubbeligen Bubenkopf?

Als das magere Kerlchen mit seinem grünen Ranzen und den O-Beinen vorüber ist, krempelt der Mann die Ärmel hinunter und schlendert ihm unauffällig hinterher. Immerhin ist kürzlich Werkzeug aus den Waggons entwendet worden.

Doch der Kleine geht gar nicht durch die Unterführung zu den Werkzeugwagen, sondern zunächst der Böschung entlang nach rechts. Wo die Strecke dann allmählich nordwärts abbiegt, schlüpft er mit einem stinkigen, verschilften Graben unter den zweigleisigen Bahndamm. Dort, in dem engen Tunnel, bleibt er hocken. Der Mann schaut auf seine Uhr; sie zeigt kurz vor halb elf. Gleich würden Züge kommen – ein Personenzug mit Gegenzug und sofort darauf ein Güterzug. Als habe der Kleine das gewusst!

Jetzt fahren die beiden Eilzüge über den Tunnel. Das Kind hat sich erhoben und steht nun aufrecht – mit den Armen fuchtelnd. Der Mann schleicht sich noch näher, als eben die dritte Lok naht. Und da bemerkt er auch, dass das Kerlchen schreit, brüllt aus voller Brust, während der lange Güterzug über ihm dröhnt. Es hat den Mann gesehen, kann aber nicht mehr aufhören. In seinem Gesicht stehen Trotz und Angst.

Da kriecht der Mann in das Dunkel und das Getöse hinein, fasst das Kind an der Hand und grölt und orgelt mit, so laut er kann.

Sie schreien noch, wenn der Zug in der Ferne verrauscht.

 

 

 

AN EINEM SAMSTAG oder DIE HAND

Mein Bruder absolvierte seinen Ersatzdienst als Kriegsdienstverweigerer bei Essen auf Rädern.

Als er einmal für ein paar Tage krank geschrieben war und ich zufällig Urlaub hatte, bot ich mich an, die Vertretung zu übernehmen. Ob aus Nächstenliebe, Sentimentalität oder Neugier – ich weiß es nicht.

Und bei dem alten Matuschke in der Kolpingstraße, dem wurden beide Beine amputiert, hatte Ulrich gesagt, brauchst du nicht zu denken, dass er öffnet. Das läuft alles durch die Klappe unten in der Tür.

Die alten Leutchen freuten sich, erkannten mich als den älteren Bruder, wenn ich die heißen Tender brachte. Sie atmeten durch, wenn ich gekommen war und ein wenig verweilte. Hielten ein Schwätzchen mit mir.

Ich klingelte und klopfte auch im zweiten Stock bei Matuschke, der in der Tat nicht öffnete. Ich klingelte ein zweites Mal und stellte das heiße Essen gemäß den Anweisungen Ulrichs vor die Klappe. In die Tür war ein Loch gesägt und von innen mit einem Stück Linoleum benagelt – wie für eine Katze, die Einlass, aber keinen Ausgang hat.

Am dritten Tag, als ich die leeren Behälter weggenommen und das neue heiße Essen hingestellt hatte, setzte ich mich auf die Treppe und wartete. Es roch nach Bohnerwachs und Urin. Gegen das Flurfenster knallten Schmeißfliegen. Nach vier, fünf Minuten zitterte eine magere violett-graue Hand heraus. Herr Matuschke, rief ich, und die Hand zuckte zurück. Ein Hund bellte. Es musste ein kleiner sein dem Kläffen nach zu urteilen. Tags darauf beobachtete ich die graue Hand wieder. Sie holte den Essensbehälter durch die Klappe herein. Diesmal blieb ich stumm, rief nicht.

Samstags stand dann das Essen vom Freitag unberührt vor der Tür. Der Köter kratzte an der Linoleumklappe und winselte. Der Akku meines Mobiltelefons war nicht geladen. Einen Schlüssel hatte ich nicht. Ich hastete die Treppe hinunter, um die Polizei und einen Notarzt zu rufen.

Draußen explodiert der Sommer. Das Straßenpflaster verdampft den kurzen Regenschauer von vorhin. Fußgänger drängeln sich so sehr, dass ich kaum vorankomme. Das Treiben des Wochenmarkts flirrt bunt herüber. Die Lindenallee duftet. Unsterblich duften die Linden, denke ich, Ina Seidel. Die Frauen zeigen Haut und Hüften. Unter den Linden liegen tote Hummeln – ausgebrannt. Der maßlose Duft hat ihnen zu viel verheißen. Bei der letzten Linde vor dem Marktplatz, im Lichtstreifen der durch die Baumkrone stößt, blitzt eine Querflöte auf. Die Marcia alla turca wetteifert mit dem Sperlingsgetschilpe im Laub. Ein Mädchen macht Straßenmusik – so eine Göttergeborene mit rotem Haar und lila Jeans. Auch sie zeigt Haut. Und Sommersprossen. Hüften hat sie noch nicht. Und tatsächlich sitzt ein Kätzchen auf ihrer Schulter.

Vor mir täppelt ein weißhaariger Alter. Parkinsonsche Krankheit, denke ich. Er weicht einem entgegenkommenden Kinderwagen aus, so dass ich ihn anrempeln muss. Ich bleibe stehn, und er ruckelt langsam herum. Mit schlecht sitzendem Gebiss sagt er: Mozart. Und er wiederholt, nun ziemlich laut: Mozart!  Er lächelt und deutet mit seiner unbeholfenen Hand auf sein rechtes Ohr.

Vom Rathausturm schlägt es Mittag, und in den Türkischen Marsch fällt das Glockenspiel mit der Melodie eines Kirchenliedes: Erde singe, dass es klinge, laut und stark dein Jubellied! Die Glocken klingen etwas schräg.

Die graue Hand! Dort am Rathaus steht – nicht wahr – eine Telefonzelle. Herr Matuschke! Mein Gott – ich suche doch eine Telefonzelle.

                                                     o. T  

DIE HEXEN KOMMEN

Er glaubte, es nicht fassen zu können. Sie wolle, so sagte sie, noch eine bepinkelte Rose aus dem Auto holen. Oder sagte sie bepisste? Jedenfalls klärte sie ihn, als er die Augenbrauen theatralisch hob und den Kauapparat quasi debil hängen ließ, darüber auf, dass Manons Baby drauf gepieselt habe. New Age, Esoterik – er wusste Bescheid. Seine rudimentär christlichen Knie und sein aufklärerisches Rückgrat wurden ihm weich. Ja, er wusste Bescheid. Eine zynische Bemerkung oder eine Explosion hätten ihm nur die Entgegnung eingetragen, das sei sein eigenes Problem. Schließlich kam sie ja von einem Psi-Frauentreff zurück, oder einem spirituellen oder transzendentalen oder biorhythmischen oder wieauchimmeren. Ja, er wusste Bescheid! Wollten sie doch ein Kind bekommen, was nicht klappte. Also war Zauberei das Naheliegende. Er spielte mit seiner Kiefermuskulatur und schwieg. Schweigen ist Männersache. So schwieg er denn und zog sich schweigend zurück. Jetzt fügte sich alles zu einem Mosaik zusammen: Die Hexen kommen. Er wusste, das würde ihn unvermögend machen. Welcher Voodoo-Zauber sollte über ihn verfügen? In ihrem Zimmer hatte er ein Buch über Mond, Tanz und Magie entdeckt und heimlich darin geschmekelt. Von einer Frau Franzia oder Frantscha, je nachdem, wie man das C-I ausspricht. Mit Ritualfotos von dieser Frau Franzia oder Frantscha, das heißt, mit ihr drauf. Und ein Buch über den Weg zur Göttin der Tiefe. Von einer Frau Perera oder so, mit in ihrem Mutterschweiß keimenden Ceralien in der hohlen  Hand. Er war nie ein Frauenfeind, wenn er auch auf  die Frage nach seinem Sternzeichen gewohnheitsgemäß Alligator angab. Bis die Angetraute ihn nach monatelangem Bemühen davon überzeugt hatte. Beiläufig fragte er vor dem Gutenachtkuss scheinbar schlaftrunken: Und die Rose aus dem Auto?Die hab ich im Bad eingeweicht. Am Morgen mied er das Bad, erfrischte sich notdürftig am Waschbecken im Klo. Ihm fiel ein, dass sie einen Artikel über kosmisches Kochen gelesen hatte. Wollte sie ihm zur vollen Mondin die von einem Baby bepinkelte Rose in die Rohkost schnipseln, die er immer bekam, wenn er gern ein gegrilltes Eisbein auf Sauerkraut verzehrt hätte? Ihm verging die Lust auf ein Kind, und er beschloss, in der Stadt zu essen. Dort bemühte er die Universitätsbibliothek, peinlich darauf achtend, dass niemand bemerkte, welche Bücher er zur Hand nahm. In Symbol-Lexika, im Odenwälder Zauberschlüssel, im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens schlug er nach unter Rose und Urin. Nichts Einschlägiges war zu finden. Rose als Liebessymbol – selbstverständlich. Absud von Rosenblättern mit Blattläusen als Liebestrunk. Hmm! Aber er liebte ja sein Weib. Meistens. Und: Bei Neumond durch den Ehering einer unfruchtbaren Frau Wasser lassen macht diese fruchtbar. Wasser – na, klar. Wer lässt, war nicht zu entnehmen. Nun, das war ohnehin nicht das Richtige. Er las in ihren Zeitschriften über die esoterische Tradition der Inkakultur, magische Momente, Reiki-Seminare ersten und zweiten Grades, universale Lebensenergie, Rebirthing, Re-Inkarnation, den keltogermanischen Runenweg Asatru mit Trancetanz, Karma-Partnerschaft und Hakomi, die göttliche Kraft. Er konnte es sich ausmalen: Ein Rosenmatsch lag in einem zur Sommersonnwend-Nacht  von einem Schamanen getriebenen Kupferschälchen auf der Badematte, natürlich mit ihrem Monatsstein drin. Und mit seinem, einem Feueropal, wie sie ihn belehrt hatte, bestreut mit den gräulichen Resten seiner letzten Rasur, Tage her, in einem Drudenfuß aus Salbei-Asche und einem magischen Kreis von Kaurischnecken, die ihren Schlitz der großen Mondin hinstreckten. Das hatte sicher etwas zu tun mit ihrem Aszendenten oder mit dem auf- und absteigenden Mondknoten. Da endlich begriff er: Probleme muss man nach außen kehren und verbalisieren. Er raffte sich auf: Was ist denn mit deiner bepinkelten Rose? Ach, die enge, schwarze, die hab ich schon längst wieder an. Seit wann interessierst du dich für meine Hosen? So ein bisschen Babypisse! Ich hab nicht gedacht, dass der Kleine von Manon undicht ist. Sonst hätte ich ihn nicht auf den Schoß genommen. Die hennarote Manon, aha – die mit den Sommersprossen! Ihre Landsleute wissen’s doch: Elle a battu de la merde avec le diable. Mit dem Teufefel Scheiße gedroschen. Eben!

Jetzt wusste er wirklich Bescheid. Schon wieder einer dieser Hexentricks! So sind die Weiber – vorne und hinten stecken sie voller Finten.

 

 

 

MÜLLER oder DIE IDIOSYNKRASIE

Der Großvater liest morgens die Zeitung, damit er sich beim Frühstück aufregen kann. Mit der Großmutter will er nicht diskutieren, weil er sich dann vielleicht zu sehr aufregen würde. Er teilt ihr lieber nur mit, was er denkt.

Die Enkel sind einmal wieder da, weil ihre Eltern als Schauspieler ständig auf Tournee sind.

Das „Darmstädter Tagblatt“ macht bei der Sprachverhunzung kräftig mit, knurrt der Großvater zwischen Frühstücksei und deutschem Kaviar, gefärbt. Hör dir diesen Titel an: Müller enttäuscht. Weglassung des Artikels und Schwund des Präteritums. Ich wette, dass dies mehr als sieben Bedeutungen haben könnte: Irgendein oder ein gewisser Getreide mahlender Müller wurde enttäuscht oder ist enttäuscht von der – oder, transitives Verb, enttäuschte oder enttäuscht die – Stadtverwaltung. Oder alle Müller der Gegend oder einige wurden enttäuscht oder sind enttäuscht wegen irgendwelcher Wegerechts-Querelen mit dem Wanderverein. Oder der Fußballtrainer Heiko Müller enttäuschte oder enttäuscht die Fans oder war oder ist enttäuscht von der Leistungsfähigkeit der Mannschaft. Und außerdem muss ja erst einmal eine Fremd- oder Selbsttäuschung vorliegen, damit man enttäuschen kann.

Lies doch einfach mal, sagt die Großmutter, dann weißt du, worum es geht. Die Zeitungsleute müssen ununterbrochen ihr Zeug produzieren – da kannst du deine Magister-Maßstäbe nicht anlegen. Und schließlich bist du ja in Pension.

Ich habe nun einmal eine Idiosynkrasie gegen Sprachverhunzung. Weißt du, dass Verhunzung von Hund kommt? Ich würde einen Hund nicht so behandeln, wie diese Titeler es mit der Sprache tun. Wozu haben wir denn bestimmte und unbestimmte Artikel und das Präteritum? Die Großmutter fragt lieber nicht, was Idiosynkrasie sei.

Das Zwillingspärchen – der Opa sagt Zweilinge, denn er behauptet: Ein Mädchen und ein Bübchen können nur Zweilinge sein. – hat sich schon längst in eine Zimmerecke zurückgezogen. Die Beiden schauen einander an und lecken sich die Lippen, wie es der Großvater auch tut, wenn er so ein prächtiges Wort wie eben verwendet hat – eins aus seiner Wortschatulle, wie er freimütig zugibt. Die Großmutter leckt sich die Lippen, weil sie zu guter Letzt Bananenscheibchen mit Sprühsahne gegessen hat. Die Kinder blinzeln sich an. Jetzt haben wir wieder eins, denken sie. Manchmal wirft der Großvater ihnen nämlich Wörter zu, so ganz absichtlich – wie kleine, bunte Bälle. Mingipeel – Oxymoron – Wumbabel – Akrostichon – Wurliwauz. Also richtig zum Liebhaben oder sich zu ekeln oder zu fürchten. Diese malen die Kinder – ein jedes in sein Malheft – und vergleichen dann. Bei den Großeltern dürfen die Zweilinge nämlich nicht an den Computer.

Die Malhefte der Zweilinge sehen sehr verschieden aus, aber unter jedem Bild steht ein Wort aus Opas Wortschatulle. Lisa und Robin können schon gut genug schreiben. Mit dem neuen Opa-Wort haben sie es diesmal nicht ganz einfach. Robin hat etwas von Idiotenkratze, Lisa etwas von Sündenkatze gehört. Sie einigen sich auf Idjózükrax und beschließen, dass dieser oder diese oder dieses ein ekliges, vielfarbiges Rieseninsekt sein müsse, das man nicht anfassen möchte. Hoffentlich klettert es nicht an der Wand hoch und fällt dann von der Decke herab, denken sie. Robin hätte zwar lieber eine Art Alien gesehen, aber seine Schwester hat sich einmal wieder durchgesetzt – wie bei der Geburt. Eifrig malen sie und linsen dabei heimlich in das Heft des anderen Zweilings, was ja eigentlich nicht gilt. Jeder findet sein Bild richtiger. Die beiden sind sehr gespannt, was Opa Cyril zu ihren Bildern sagen werde.

Der steht lange über die Malereien gebeugt und wackelt mit dem Bart. Dann sagt er zunächst einmal: Am Anfang war das Wort.                                                   

 

VOM SÚRMELI

Als ich auf der Wiese am Rande des Schlossparks, wo die Fohlen sind, nach einem vierblättrigen Kleeblatt suche, kommt Opa Cyril vorbei. Wie immer mit seinem Strohhut wegen Sonne und Glatze und so.

Nun, flotte Lotte, was gibt es zu suchen? fragt er. Lugi nennt mich Charlie statt Charlotte, Opa flotte Lotte. Das höre ich ganz gern.

Eigentlich nichts, sage ich.

„Eigentlich“ bedeutet „nicht“, wie du sicher entdecken kannst, sagt Opa Cyril. Also suchst du nicht nach nichts, das heißt: Du suchst nach etwas. Wonach denn suchst du allhier?

Das klingt aber feierlich! Manchmal hat er so einen Tick – will mich mit Wörtern durcheinander machen.

Nur so, behaupte ich.

Was denkt Opa, wenn ich nur so sage? Er denkt vielleicht, dass ich mich für irgendwas schäme. Oder, dass ich was verloren habe, das ich auf keinen Fall verlieren darf, oder gar nicht haben dürfte. Oder, dass ich ihm nicht vertraue. Oder, dass – oder, dass …

Opa Cyril sagt: Wenn du also „nur so“ suchst, könntest du auch nach einem Surmeli suchen. Ja, du solltest sogar!

Wie bitte? kriegt er etwas patzig von mir zu hören.

Ich schreib es dir nachher auf – du kannst ja schon ein wenig lesen. Ein Surmeli!

Hä – ein was?

Schau, beschwört er mich, ein Surmeli ist etwas ganz Besonderes. Es ist seltener und schöner als Vieles. Niewer findet so leicht eines. Und wenn eine oder einer eines findet, dann hat sie oder er es. Suchen ist Abenteuer, ein solches braucht man täglich – gefunden ist gefunden. Mach dich auf die Suche, und zwar flottchen, liebes Lottchen. Das höre ich nicht so gern. Und wenn du eines hast – bitte, zeig es mir. Was es ist und dass du eines hast, bleibt unser Geheimnis. Leutchen und Leute brauchen ein Geheimnis – mindestens eines.

Mir steht der Mund offen, während Opa Cyril auf dem Kiesweg davon stapft. Das knirscht, weil er hinkt, besonders unter seinem linken Fuß.

Jetzt muss ich also nach einem Surmeli suchen. Wer weiß, vielleicht mein Leben lang. Schon Opa zu Lieb. Aber wo?

 

© JMG