URSULA TEICHER-MAIER
FLUCHTPUNKT I
Wie viele Geschichten entstehen im Gehen
Manche davon werden mit dem Leben bezahlt
Gestern standen sie vor unserem Haus
Und schauten uns in die Fenster herein
Sie hatten ziemlich dunkle Gesichter als
Fiele ein Schatten unserer Gedanken hinein
Und so hüteten wir uns davor zu denken und
Flüsterten sinnlose Worte wie Beschwörungs-
Formeln vor uns hin und löschten das Licht weil
Wir immer noch keine Gardinen besaßen wir gingen
An unsere Arbeit und schauten nur manchmal hinaus
Aber am Abend standen sie noch immer reglos da
Wir hielten ihnen altes Linnen hin und Brot später
Delikatessen doch sie schüttelten nur den Kopf
Sie wollten mehr von uns viel mehr sie wollten
Mit uns unsere Luft atmen und in unseren
Träumen wohnen sie wollten in unserer Haut
Durch die Städte gehen und unsere Gedanken
In ihren Kindern und Kindeskindern wiedererkennen
FLUCHTPUNKT II
Als sie gestern durch die Bilder zogen irgendwo
An der Grenze zu Serbien oder Mazedonien blieb
Eines jener Kuscheltiere wie zu schwere Luft
Am Boden liegen und wir wussten wieder einer
Weniger und keiner von uns sprach darüber jeder
Zog sich still in sein Zimmer zurück zu jenen Worten
Die für keinen bestimmt sind und die keiner kennt
Außer vielleicht einem toten Kind oder den Bildern
Die sich nicht schämen so etwas zu zeigen
Die Welt ist sternenlos geworden sagt ein Flüchtling in jenem Film der
Im Nonstopkino ihres Kopfes abläuft weshalb sie das Haus verlässt
Zum Fluss geht und aufs Wasser starrt wobei ihr nichts als Fisches
Nachtgesang einfällt und sie plötzlich über die fehlenden Worte darin
Weinen muss und über alles was fehlt sie weint Wasser zu Wasser
Und geht nach Hause und auf dem Weg weint sie drei Taschentücher
Nass sie weint ihr Kleid nass und die Unterwäsche später rinnen die
Tränen an ihr hinunter in die Teppiche die sich allmählich in etwas
Pflanzliches verwandeln und dann an der Zimmerdecke schwimmen
Während sie weinend auf der Couch sitzt und froh ist etwas zu können
Etwas das diesen Tag verändert wie Musik oder Lachen und das Wasser
Fließt aus ihrem Haus in den Garten und die Straße entlang fließt in
Die trockene Stadt wo sich zuerst die Kinder damit bespritzen später
Die Mütter dann einzelne Geschäftsleute und Schaufensterflaneure
Patschen und planschen lachend in ihren Tränen herum und sie weiß
Dass sie nicht aufhören darf zu weinen weil sonst ihre Gedanken wie
Blitze ins Nasse fahren und die Welt sternenlos in ihren Kopf zurückfällt
FLUCHTPUNKT III
Frau mit dem Kopf im Sand und einem Kragen aus Meer*
Sie will diese Bilder von ertrinkenden Afrikanern nicht mehr sehen
Sie schaltet den Fernseher immer kurz vor den Nachrichten aus
Eigentlich wünscht sie sich längst ein Leben in einer anderen Zeit
Auch wenn es Leuten wie ihr angeblich niemals besser ging als jetzt
Und genau hier wo ein Hund an zu viel Zärtlichkeit eingehen kann
Und kein Nachbar das Wort Hunger noch im Körper spürt möchte sie
In diesem haltlosen Sand etwas Verlässliches finden wie die Knochen
Eines Dinosauriers und auf ihnen zurückreiten zB ins Mesozoikum
Oder wenigstens ein Stück in die eigene Geschichte um nicht länger
So mit leeren Händen hier zu stehen wo diese Afrikaner nachts
Dunkel durch ihren Kopf ziehen ohne eine helle Spur zu hinterlassen
FLUCHTPUNKT IV
Gedicht ohne Flüchtling
Ein Kameraschwenk und schon entstehen im Hirn andere Bilder
In Japan feiert der Tenno den Frühling im Garten Europas Politiker
Küssen sich wieder die Wangen im Scheinwerferlicht und einer
Der letzten Ostseefischer pult Heringe aus einem Fangnetz heraus
Das rührt uns weil es die Zeit und den Raum im Kopf zueinander
Rückt bis ein Gedicht seine Bilder verlässt und ins Wort will
Draußen weit draußen wird weiterhin an den Zäunen gerüttelt
Aber wir leben im Jahr zweitausendsiebzehn und haben uns daran
Gewöhnt dass z. B. Pinguine und Eisbären als Bildschirmschoner auf
Tauchen und wie das Permaeis sang- und klanglos wieder verschwinden
Wir nehmen das Gedicht
Wir lassen es uns durch den Kopf gehen
Wir stellen das Gedicht ins Netz
Dabei rutscht garantiert kein einziger Flüchtling durch die Maschen
FLUCHTPUNKT V
Und wie wir endlich zum Mond kamen, war's ein Stück faul Holz
Bisweilen ist es gut ein wenig Abstand zu nehmen
Von all diesen Geschichten zwischen Schreibtisch und Bett
Und einmal so durchzuatmen wie der Astronaut Chris Hadfield.
Als er Space Oddity in einer Raumstation sang
In jenem schwerelosen Zustand der uns beruhigen soll
Und glauben lassen dass die Erde immer noch kein umgestürzter Hafen sei
Und dass sich noch alles um alles drehe sagst du
Und ich schaue dir zu wie du das Atmen vor dem Spiegel übst
Um mir zu beweisen dass wir beide
Noch am Leben sind und sich etwas wie Zärtlichkeit einstellt
Wenn die Luft in den Lungen ausreicht um
Sich in den luftleeren Raum fallen zu lassen und dennoch zu singen
*Ich beziehe mich hier auf Olaf Veltes "Kragen aus Erde"
©UTM