Jede Lyrikerin schreibt heimlich auch ein wenig Prosa.

Profis

Das Flugzeug startet. Der Mann hat einen Fensterplatz. Neben ihm sitzt eine Frau mit einem Goldzahn. Profis sitzen am Gang, denkt der Mann. Die Stewardess führt die Schwimmwesten vor. Der Mann schaut der Stewardess zu. Profis lesen jetzt Zeitung und schlafen dann ein, denkt er. Die Frau mit dem Goldzahn blättert im Bordmagazin. Die Wolken schwimmen unter dem Flugzeug weg. Unter den Wolken schwimmt die Erde. Das Flugzeug galoppiert, und das Lämpchen fasten seat belt leuchtet auf. Die Stewardessen gehen breitbeinig durch den Gang und kontrollieren die Gurte. Profis macht so was nichts aus, denkt der Mann. Das Flugzeug hopst. Der Magen des Mannes hopst mit. Der Mann schließt die Augen wie ein Profi. Dann schnurrt das Flugzeug, und das Lämpchen erlischt. Die Stewardessen rollen den Essenscontainer durch den Gang. What would you like to drink, wird der Mann gefragt. Profis bestellen jetzt Champagner, denkt er. Er isst alles auf und trinkt coffee und orange juice. Die Frau mit dem Goldzahn trinkt wine. Dinner from Indian air is definitely better, sagt sie. Sie zieht ihre Lippen mit Hilfe eines Taschenspiegels nach. Der Mann schaut sie an und sagt profilike yes madam. Reden ist Silber, denkt der Mann. Dann hat auch er Gold im Mund.

Fragen

Der Mann schaut aus dem Fenster. Wo fängt eigentlich der Himmel an, fragt er die Frau. Mal da, mal dort, sagt sie. Der Mann betrachtet die Spitzen der Schornsteine und den Rauch. Er betrachtet die Fichtenspitzen. Er betrachtet seine Fingerspitzen. Unten auf der Straße geht eine junge Frau. Die junge Frau geht bis ans Ende der Straße. Das Ende der Straße ist der Anfang einer anderen Straße. Wo endet eigentlich der Himmel, denkt der Mann, und was fängt dann an? Unten auf der Straße rennt nun ein junger Mann. Vielleicht rennt er hinter der jungen Frau her, denkt der Mann. Und: Sein Rücken sieht fröhlich aus. Die Katze sitzt auf dem Fensterbrett. Auch sie schaut dem jungen Mann beim Rennen zu. Warum haben wir Menschen eigentlich kein Fell, fragt der Mann die Katze. Die Katze schließt die Augen. Bestimmt himmelt sie, weil ich so viele Fragen stelle, denkt er, und die Katze gähnt mit gefährlichen Zähnen. Unten auf dem Bürgersteig steht ein kleiner Junge. Er schaut zu dem Mann und der mit gefährlichen Zähnen gähnenden Katze herauf und winkt. Der Mann winkt mit den Händen des kleinen Jungen zurück.

Reflektor I

oder

Mahnwache

Der Mann und die Frau halten Mahnwache. Mit dem Mann und der Frau halten ein Polizeiwagen und ungefähr fünfhundert andere Männer und Frauen Mahnwache. Ein Mann verteilt Schilder an alle. Eine Frau verteilt Kerzen an alle.  Jede Frau und jeder Mann hält nun in der einen Hand eine Kerze und in der anderen ein Schild. Auf den Schildern steht Je suis Charlie. Das ist doch Quatsch, sagt der Mann. Das ist symbolisch gemeint, sagt die Frau. Und: Man müsste drei Hände haben. Der Mann schaut sich um. Ungefähr fünfhundertzwei Frauen und Männer sind jetzt angeblich Charlie. Das kann man doch besser ausdrücken, murmelt der Mann. Die Frau antwortet nicht, sie ist mit ihren drei Händen beschäftigt. Die dritte Hand wäre für ihre Handtasche und für drei Einkaufstüten zuständig. Du könntest ja auch mal, sagt sie zum Mann. Ich kenne ja Charlie noch nicht mal, sagt der Mann. Die Männer und Frauen ringsum sprechen über alles Mögliche. Niemand spricht über die Mahnwache. Eine Straßenbahn fährt vorbei. Alle halten die Jesuischarlieschilder und die Kerzen hoch. Der Fahrtwind der Straßenbahn bläst die Kerzen aus. Einige der ungefähr fünfhundertzwei Frauen und Männer singen We shall overcome. Einige der ungefähr fünfhundertzwei Frauen und Männer gehen nach Hause. Wir nehmen die nächste Bahn, sagt die Frau. Sie steckt die Jesuischarlieschilder und die erloschenen Kerzen in eine der drei Einkaufstüten. Mann und Frau steigen in die nächste Straßenbahn. Draußen halten nun noch ein Polizeiwagen und ungefähr zweihundertdreißig Frauen und Männer Mahnwache für Charlie Hebdo. Ungefähr zweihundertzweiundsiebzig Jesuischarlieschilder halten in Rucksäcken, Einkaufstüten und Papierkörben Mahnwache für das Nichts und das Wiedernichts.

 

Reflektor II

oder

Pegida

Die Frau schaut aus dem Hotelfenster. Unten auf der Straße stehen Menschen. Die Menschen unten auf der Straße halten Schilder hoch. Auf den Schildern steht zB Lügenpresse. Auf den Schildern steht zB Heimatschutz. Auf den Schildern steht zB Stoppt Islamisierung. Die Menschen unten auf der Straße setzen sich in Bewegung. Die Menschen unten auf der Straße rufen Wir sind das Volk. Die Menschen unten auf der Straße haben entschlossene Gesichter. Was die wohl wollen, fragt die Frau den Mann. Doch der Mann ist mit den Streichhölzern beschäftigt. Die Streichhölzer sind von dreiundfünfzig. Der Mann will nur eine Zigarette rauchen. Die sind feucht geworden, murmelt er. Der Mann nimmt Streichholz um Streichholz aus der Schachtel. Er reibt Streichholz um Streichholz an der Reibefläche, doch Streichholz um Streichholz entzündet sich nicht. Die denken, das Boot sei voll, sagt er dann zur Frau. Das Boot ist kein Boot mehr, sondern ein Meer, sagt sie. Das Meer ist kein Meer mehr, sondern ein Grab, sagt er. Die Frau wühlt ein Feuerzeug aus ihrer Handtasche und reicht es dem Mann. Der steckt sich eine Zigarette an und lehnt sich zum Rauchen aus dem Fenster. Die Asche bleibt lange an der Zigarette hängen. Dann fällt sie plötzlich ins Dunkle. Mann und Frau schauen hinter der Asche her. Aber das Dunkle hat die Asche verschluckt. Am Grunde des Dunklen brennen die Menschen.

 

Reflektor III

oder

sog

Die Frau sieht jeden Tag im Fernsehen sog Flüchtlinge in Booten. Die Frau sieht sog Flüchtlinge auf Bahnhöfen. Sie sieht sog Flüchtlinge an Stacheldrahtgrenzen. Die sog Flüchtlinge haben ein Ziel. Das Ziel heißt Deutschlandenglandschweden. Das Ziel heißt Überlebenundruheundfrieden. Das Ziel heißt Wohlstandundglück. Das Ziel heißt Meinekindersollenesbesserhaben. Die Frau liest fast jeden Tag, dass sog Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken. Sie liest, dass sog Flüchtlinge auf der sog Balkanroute festsitzen. Sie liest, dass sog Flüchtlinge in Gefängnissen und sog Flüchtlingsunterkünften frieren und rebellieren. Die Frau hofft, dass irgendjemand allen diesen sog Flüchtlingen hilft. Sie würde versuchen, allen diesen sog Flüchtlingen zu helfen, wenn sie reich und mächtig wäre. Sie würde versuchen, ihnen zu helfen, wenn sie jünger wäre. Sie würde versuchen, ihnen zu helfen, wenn sie Zeit hätte. Doch wenn sie abends in den Spiegel schaut, sieht sie darin nur ihr müdes Gesicht und eine neue Falte. In dieser neuen Falte verbirgt sich das sog Elend der Welt.

 

 

Mein Gedächtnis funktioniert sehr seltsam. Will ich mich an den Inhalt eines Buches, den Namen seiner Heldin, erinnern, meldet es mir, dass ich heute vor fünf Jahren, punkt zwei Uhr in der Riedeselstraße einen alten Bekannten traf, der braune Ohrenwärmer trug und darum wie ein Koalabär aussah, ein Koalabär, der Hallo sagte. Wenn ich nun eben diesen Bekannten wiederträfe, könnte es sein, dass mir nicht sein Name einfiele, jedoch der Titel des Referats, das wir vor zwanzig Jahren an der Universität gemeinsam hielten. So also funktioniert mein Gedächtnis. Wer wollte da behaupten, es sei schlecht, doch eigenwillig, ja, so könnte man es nennen oder: störrisch wie ein Esel. Darum bin ich auch für Prüfungssituationen denkbar ungeeignet, es sei denn, mein Prüfer hätte ein Herz für lange Assoziationsketten. Mein Gedächtnis, davon bin ich überzeugt, ist ein Familienerbe. Wenn ich zum Beispiel meine Mutter frage: Sag mal, wie war denn das damals mit Onkel Paul?, antwortet sie mir bestimmt: O, da müsste ich einmal nachdenken, doch Tante Lotte, die Krankenschwester, du weißt schon, hatte vor dem Krieg einen reichen Verehrer, einen Schokoladenfabrikanten, und um ein Haar wäre Geld in Form von Schokolade in die Familie geflossen, aber Lotte war einfach nicht bindungsfähig.

Bindungsfähig ist ein Wort, das meine Mutter liebt, seitdem sie ein Buch von... wie hieß er doch gleich?... gelesen hat. Seitdem unterteilt sie mit Leidenschaft in bindungsfähig und nicht bindungsfähig. Sie selber gehört zu ersterer Kategorie, davon ist sie überzeugt, ihre Ehejahre mit meinem Vater seien der Beweis dafür. Ein schlagkräftiger Beweis! Nein, schlagkräftig ist vielleicht nicht das rechte Wort für die Beziehung meiner Eltern. Man täte ihr unrecht, geschlagen hat niemand in dieser Ehe, daran kann sich zumindest keiner erinnern. Auch ich nicht. Nur einmal, sagt meine Mutter, ein einziges Mal nur, warf dein Vater ein Messer nach mir. Doch das war nicht so schlimm, denn es flog an mir vorbei, flog durchs Fenster und landete vor dem Haus. Es war nur gut, dass gerade keiner vorbeikam.

Dieses Messer, meine Mutter erinnert sich manchmal ganz plötzlich daran und erzählt mir seine Geschichte - wenn ich gerade etwas über die Zusammensetzung von Haarbleichmitteln von ihr wissen will oder über den Onkel, der in die DDR ausgewandert ist - dieses Messer also ist in meinem Kopf zum geflügelten Messer geworden, und auch ich erinnere mich bisweilen daran und frage mich, ob es an meiner Mutter vorbei geflogen ist, weil es eigentlich lieber auf einem Ast sitzen und zwitschern wollte. Oder sollte sich meine Mutter gerade im rechten Augenblick gebückt haben, um sich die Schnürsenkel zu binden oder um meinem Vater den Teppich unter den Füßen wegzuziehen? Wer weiß. Ich jedenfalls bin auf Vermutungen angewiesen, da es niemanden in der Familie gibt, der über ein normal funktionierendes Gedächtnis verfügt. Leider betrifft dies, wie gesagt, auch mich, auch ich kann mich selten genau daran erinnern, was früher geschah. Meine Kindheit ist ein fast unzugänglicher Kontinent. Selten nur gelingt es mir, einen Fuß ins Dickicht zu setzen, um ein Bild, ein Gefühl mit nach Hause zu bringen. Das Starren auf Lamettafäden beispielsweise, in denen sich Licht und Schatten spiegeln, Schatten, die mich stillhalten lassen, den Atem angehalten vor Grauen. Oder den Gang in den Keller, in dem sich schwarze Männer aus den Mauern lösen, Männer, die man wegsingen muss, die man lärmend ignorieren muss, damit sie sich nicht auf einen stürzen. Und meine Eifersucht, die kehlezuschnürende, auf jede und jeden, die die spärliche Zeit meiner Mutter beanspruchen.

Was für ein Kind war ich, habe ich ab und an jemanden aus der Familie gefragt.

Du warst ein sehr lebhaftes Kind, du warst ein sehr ruhiges Kind, du warst ein etwas dickköpfiges Kind, es war nicht ganz einfach mit dir, du warst eigentlich recht wohlerzogen, du hast fast alles gegessen, du warst ein wenig still, du hattest schiefe Zähne, du hattest abstehende Ohren, es ist schon so lange her, ich glaube, du sahst deinem Onkel Albert ähnlich oder deinem Vater.

Solche Fragen stelle ich heute nicht mehr, doch es gibt Dinge, die immer wieder einmal nach Erklärungen rufen, das geflügelte Messer ist eines davon. Ein Warum erhebt sich in die Luft, um sich mit dem Messer auf den Ast zu setzen und zu zwitschern. Warum, warum, warum, dumm, dumm. Doch keiner antwortet. Manchmal allerdings kann ich mir die Eigenheit des Familiengedächtnisses zunutze machen. Ich frage nach einer Sache und erfahre eine andere, mir noch nicht bekannte. Was für ein Messer war denn das damals, frage ich meine Mutter, ein Küchenmesser oder eines aus dem Silberbesteck, und sie sagt: O, das ist lange her, ich weiß nur noch, dass der Unterteller, den dein Vater vom Balkon warf, aus dem Rosenthal-Service stammte. Und ich warf dann die Tasse hinterher, die brauchte ich ja nun nicht mehr.

Das Seltsame ist nur, dass die Gedächtnisschwäche meiner Familie anscheinend auch auf Freunde und Nachbarn überzugreifen scheint, wenn man etwas wissen will, etwas, das meine Familie betrifft. Ob mein Vater mit seiner vierten Ehefrau ein Kind gezeugt hat, zum Beispiel, oder ob Onkel Hans nach dem Krieg entlassen wurde. Es ist wie eine Krankheit, die alle befällt, die mit meiner Familie in Berührung kommen: Man sieht ins Leere, streicht sich den imaginären Schnurrbart oder nestelt an der Tischdecke und sagt: Darüber muss ich einmal nachdenken, aber dass Deine Urgroßmutter dreimal verheiratet war, das habe ich dir doch schon erzählt, oder?

Wer kann es mir da verdenken, dass ich, was meine Ahnenforschung betrifft, verwirrt bin. Wenn man mich fragen würde, wie viele Kinder meine Großeltern mütterlicherseits hatten, würde ich mir den imaginären Schnurrbart zupfen und sagen: Eines weiß ich, nämlich, dass meine Urgroßmutter eine tolle Frau war, und dass sich einer ihrer Ehemänner, ich weiß jetzt leider nicht mehr, ob es der mittlere oder der letzte war, im Wald bei Dresden erhängt hat.

Natürlich gibt es auch in meiner Familie Geburts- und Sterbeurkunden und einen Stammbaum. Doch es ist merkwürdig: Wenn ich bislang das Bedürfnis habe, sie zu lesen, überfällt mich eine solche Müdigkeit, dass ich mich auf der Stelle aufs Sofa legen muss, um ein Nickerchen zu halten. Manchmal denke ich darüber nach, ob dies alles nicht ein wenig seltsam ist, und ob ich nicht bei Gelegenheit einmal herausbekommen sollte, wie viele Geschwister ich habe, doch dann sehe ich meistens einen Buntspecht auf der Birke vor dem Haus sitzen oder ich muss dringend das Wort Hippanthropie im Wörterbuch suchen.

 

Ich habe mir eine Aktentasche gekauft. Sie ist aus rotbraunem Rindsleder und hat einen Messingverschluss. Ich habe sie gekauft, weil ich plötzlich das Bedürfnis hatte, über dieses Leder zu streichen. Ich hätte sie nicht kaufen können, wenn sie teuer gewesen wäre, doch ihr Preis war um die Hälfte herabgesetzt, was bedeutete, dass ich sie mir leisten konnte, wenn ich vier Wochen lang auf den Kauf so überflüssiger Dinge wie Augenbrauenstifte, Brötchen oder Milchportionspackungen verzichten würde.

Nun fahre ich jeden Morgen mit ihr auf dem Fahrrad zur Stadt, und ich bin stolz, sie hinter mir auf dem Gepäckträger zu wissen. Um sie vor Regen zu schützen, habe ich immer meinen leuchtendblauen Umhang aus Kunststoff dabei, der so groß ist, dass ich ihn wie ein Zelt über mich und den Gepäckträger stülpen kann. Durch den Besitz meiner Aktentasche fühle ich mich mit den anderen Radfahrern verbunden, die morgens zur Stadt fahren. Und auch sie scheinen sich mit mir verbunden zu fühlen, das merke ich an ihren Blicken, wenn wir nebeneinander an den Ampeln auf Grün warten. Man sieht sich so kurz, so ohne Neugier an, wie man seinen Zwilling ansehen würde.

Die meisten von uns fahren weder sehr schnell, noch besonders langsam zur Stadt, so dass man einander nur selten überholt und immer mindestens drei Radlängen Abstand voneinander hält. Ohne meine Aktentasche auf dem Gepäckträger würde ich mich morgens zwischen den anderen Radfahrern allein fühlen.

Manchmal überholt mich die Straßenbahn, und ich sehe die teilnahmslosen Gesichter der Leute darinnen. Dann bin ich froh, dass ich mich auf die Straße konzentrieren muss, auf Schlaglöcher und Glasscherben, auf Gullydeckel und auf die silberfarbenen Noppen, die die Autos hoppeln lassen wie mit Springgummi spielende Kinder.  Natürlich könnte ich auch mit der Straßenbahn zur Stadt fahren, meine Aktentasche auf dem Schoß wie einen Vogelkäfig, doch dann müsste ich mir eine Monatskarte kaufen und wäre gezwungen, auf meine wöchentlichen Cafébesuche zu verzichten. Außerdem liebe ich die Fahrten in die Stadt. Besonders, wenn die Morgensonne, wie heute, die Vorgartenzäune rosig lackiert und wenn der Fahrtwind mir weich wie ein Katzenhaarpinsel über die Haut streicht. Am meisten liebe ich die Fahrt durch den Park. Im Park herrscht eine andere Zeit, hier ticken meine Zellen, hier werfe ich Luftwurzeln aus zwischen Finken und Amseln. Und mit jenem Mann, der tagtäglich auf derselben Parkbank sitzt, teile ich hier die Erinnerung an eine hinter uns zugeschlagene Tür.

Wenn ich in der Stadt bin, greife ich bisweilen hinter mich, um zu fühlen, ob meine Aktentasche noch da ist. Ich versuche, das unauffällig zu tun, weil ich niemanden beleidigen will. Nicht den Radfahrer, der links neben mir fährt, und der auch eine braune Aktentasche hat, eine abgegriffene, die auf dem Gepäckträger in sich zusammengesackt ist wie ein Toter. Den Radfahrer, der an den Ampeln immer eine Radlänge hinter mir stehen bleibt. Und auch nicht den Jüngling mit der schwarzen Sonnenbrille und dem schwarzen hochgekämmten Haar, niemanden will ich beleidigen, nur kann ich es nicht lassen, ab und an nach hinten zu greifen, um das Leder zu fühlen.

Wenn meine Aktentasche fort wäre, wäre ich traurig, aber selbstverständlich würde ich über ihren Verlust hinwegkommen. Denn eigentlich brauche ich ja gar keine Aktentasche. Doch dann hätte ich keinen Grund mehr, morgens in die Stadt zu fahren. Eigentlich fahre ich ja morgens meine Aktentasche in die Stadt. In ihr sind niemals Akten. Ich mache jeden Abend Inventur. Dann leere ich meine Aktentasche auf dem Küchentisch aus und lege ihren Inhalt für den nächsten Morgen neben dem Frühstücksgeschirr bereit: ein Päckchen Taschentücher, einen Tampon, ein Heftpflaster, eine Parfümprobe, einen Lippenstift, einen Zehneuroschein und meinen Regenumhang. Den Inhalt meiner Aktentasche kennt außer mir niemand. Doch wen sollte auch der Inhalt einer Aktentasche interessieren?

In der Stadt angekommen, verteilt sich der Strom der Radfahrer in alle Richtungen und die Träger von Aktentaschen verschwinden in Toreinfahrten mit Firmenschildern und hinter den Pforten von Bürohochhäusern. Zurück bleiben ein paar alte Frauen mit winzigen Einkaufstaschen und Schlaftrunkene mit Brötchentüten in den Händen und unter den Arm geklemmten Zeitungen. Die meisten Geschäfte sind dann noch geschlossen, und die Gesichter hinter den Fensterscheiben der Frühstückscafés sehen so blass aus, als lösten sie sich gerade auf. Dann muss ich bisweilen nach hinten greifen und das Leder meiner Aktentasche fühlen, um zu wissen, dass ich keine Straße bin und dass diese Stadt nicht ich ist.

Ich wähle jeden Tag eine andere Gegend. So kennt man mich nicht, man bezieht mich nicht in morgendliche Grußrituale ein, so störe ich nicht das morgendliche Gleichgewicht. Wie unter einer Tarnkappe fahre ich vorbei, nur den anderen Unsichtbaren sichtbar. Dann mache ich mich auf den Heimweg. Auf dem Heimweg kommt mir meine Aktentasche manchmal unpassend vor. Sie hindert mich zum Beispiel daran, in eines der Frühstückscafés zu gehen und dort ausgiebig Zeitung zu lesen. Oder im Park auf einer Bank zu sitzen und den Tag zu vertrödeln. Dann bin ich manchmal nahe daran, meine Jacke auszuziehen, um meine Aktentasche darunter zu verbergen. Doch dann habe ich das Gefühl, ihr etwas schuldig zu sein und richte mich im Fahrradsattel auf. Und allmählich rückt hinter mir die Stadt zu einem Bild zusammen.