Heute habe ich Primeln gekauft, rote, gelbe, blaue, weiße, rosafarbene und mehrfarbige. Die mehrfarbigen stellte ich in die Wohnung, an die heimlichen Knotenpunkte, die Songlines meines Wohnungslebens. So halte ich aus, bis draußen die Lieder verwirklicht werden, welche Knospen und Vögel zu singen begonnen haben. Meine Wohnung ist mir ein sicheres Land. Selten nur, wenn mir, wie neulich, der Gurt eines Rollladens in den Fingern zerreißt, mürbe geworden vom Auf und Ab der letzten Jahre, oder wenn ich den Griff der Besenkammertür einmal wieder in der Hand behalte, die Klinke, die seit Jahren unverschraubt an der Tür hängt, und die in beruhigend regelmäßigen Abständen von mir mit einem kräftigen Handschlag zum unauffälligen Funktionieren gebracht wird, ganz selten zwingt meine Wohnung mir beunruhigende Gedanken an die Vergänglichkeit auf. Meistens gehe ich ruhig meinen Beschäftigungen nach, ruhig zwischen den standfesten Dingen, beruhigt durch den zuverlässigen Kreislauf aus Schmutz und Sauberkeit, aus staubigen und wieder glänzenden Flächen. Manchmal denke ich, ich sollte ein anderes Leben führen, ein Leben der Bewegung mit Fernreisen und leidenschaftlichen Amouren, mit Sprüngen ins Unbekannte, Beunruhigende. Wenn ich dies denke, sitze ich tagelang regungslos auf der Couch, während meine Fantasie durch die Welt reist.
Ich sehe aus dem Fenster. Die einfarbigen Primeln stehen auf dem Balkontisch. Sie sind wie der Finger, der ungeduldig auf den Tisch klopft, ungeduldig, weil der Frühling auf sich warten lässt. Und das ist etwas, das mich ein wenig beunruhigt: der Finger klopft jedes Jahr etwas ungeduldiger. Ich spüre es als gelinde Atemnot im Februar. Zuerst war es nur ein dezentes Ermüden, wenn ich die Wohnung verlassen wollte, dann wurde es stärker, das Treppensteigen wurde zur Mühsal, der tägliche Einkauf zur lästigen Pflicht. Ich verschob die großen Projekte auf den Mai und probte einen neuen, ruhigeren Rhythmus ohne Spaziergänge durch grau-braun vor sich hinmodernde Vorgartensiedlungen. Einkäufe machte ich wöchentlich, das vergessene Mehl erbat ich mir von den Nachbarn. Mein Leben verlangsamte sich, und heute bin ich fast am Stillstand angelangt. Fast. Ich habe ja Primeln gekauft. Ich komme mir vor wie ein Maler, der plötzlich und unerwartet leuchtende Kleckse auf den vertraut tristen Grund malt. Blau, Rot, Gelb, Rosa, plötzlich und unerwartet vom stillen Betrachter. Die Primeln verbinden mich mit den Nachbarn. Auch sie haben Primeln gekauft, und überall in den Fenstern, auf Balkonen, in Vorgärten sind sie als farbige Tupfen zu sehen. Sie stimmen nicht, wie die Ostereier in den Schaufenstern stimmen sie nicht, das Februarlicht passt nicht zu ihnen. Es passt zu den bescheidenen Köpfen der Schneeglöckchen. Doch Schneeglöckchen passen nicht in die Wohnung. Ich fühle mich heute meinen Nachbarn sehr nah, so nah, als spürte ich ihren Atem an der Wange, im Nacken. Wir alle haben Primeln gekauft, wir warten auf den Frühling. Ich habe ein Buch, das heißt "Blütenpracht für jeden Garten". Darin sind schwarz-weiße Primeln abgebildet. Schwarz-weiße! Wer wohl schwarz-weiße Primeln kauft? Meine mehrfarbigen Primeln sind rot-gelb und blau-weiß mit einem gelben Stern in der Mitte. Die rot-gelben sind samtig wie Katzenpfoten, und das Rot geht an den Blütenblattspitzen in Purpur über. Sie stehen dort, wo mein Blick sie benötigt, um nicht zu ermüden. Jemand, der schwarz-weiße Primeln kaufen würde, wäre mir fremd. Und doch: ich könnte mir vorstellen, dass ich mir nächstes Jahr schwarz-weiße Primeln kaufe, nächstes Jahr oder übernächstes. Vielleicht fühle ich mich dann als etwas Besonderes, den Nachbarn mit ihren roten, gelben, blauen Primeln Überlegenes. Vielleicht genieße ich dann meine Einsamkeit, die stille Größe von schwarz-weißen Primeln. Ich kann mir auch vorstellen, dass ich dann gar nicht mehr auf den Frühling warte. Nächstes Jahr oder übernächstes.
Eigentlich wäre ich ja lieber jemand, der keine Primeln kauft. Eigentlich finde ich Menschen, die Primeln kaufen, ungeduldig. Sie können den Frühling nicht abwarten, sie klopfen mit dem Finger. Sie sind abhängig, ja, sie sind Sklaven des Grünen. Eigentlich wäre ich lieber stark und unabhängig und in mir ruhend. Eine beeindruckende Persönlichkeit. Eigentlich schäme ich mich für die Primeln. Ich möchte sie nicht jedem zeigen. Günter Grass, zum Beispiel, würde ich meine Primeln nicht zeigen wollen. Doch Primeln wollen gesehen werden, das ist ihr Naturell. Sie lassen sich nicht in der zweiten Reihe im Bücherregal verbergen wie meine Kriminalromane, sie wollen ans Licht. Die schwarz-weißen Primeln in meinem Gartenbuch sehen aus wie geschimmelte schwarze. Sie haben eine eigenartig dekadente Schönheit, sie wirken wie ihr eigenes Gegenteil. Ich beginne, einen Drang zu spüren, den Drang, sie zu besitzen, sie und die daneben abgebildeten zyklamfarbenen. Bestimmt sind sie teuer, sind sie die Adligen unter den Primeln. Man dürfte sie nicht neben die anderen stellen, müsste ihnen einen besonderen Platz in der Wohnung einräumen. Ein Blumensockel wäre das richtige. Ich besitze keinen Blumensockel, ich hätte plötzlich viel zu tun. Der Frühling würde mich bei der Arbeit überraschen, beim Bau eines Blumensockels etwa oder beim Besuch der zweiundzwanzigsten Gärtnerei. Ich glaube, es wird schwer werden, mit dem Kaufen von Primeln aufzuhören.
© Ursula Teicher-Maier