Ich habe mir eine Aktentasche gekauft. Sie ist aus rotbraunem Rindsleder und hat einen Messingverschluss. Ich habe sie gekauft, weil ich plötzlich das Bedürfnis hatte, über dieses Leder zu streichen. Ich hätte sie nicht kaufen können, wenn sie teuer gewesen wäre, doch ihr Preis war um die Hälfte herabgesetzt, was bedeutete, dass ich sie mir leisten konnte, wenn ich vier Wochen lang auf den Kauf so überflüssiger Dinge wie Augenbrauenstifte, Brötchen oder Milchportionspackungen verzichten würde.
Nun fahre ich jeden Morgen mit ihr auf dem Fahrrad zur Stadt, und ich bin stolz, sie hinter mir auf dem Gepäckträger zu wissen. Um sie vor Regen zu schützen, habe ich immer meinen leuchtendblauen Umhang aus Kunststoff dabei, der so groß ist, dass ich ihn wie ein Zelt über mich und den Gepäckträger stülpen kann. Durch den Besitz meiner Aktentasche fühle ich mich mit den anderen Radfahrern verbunden, die morgens zur Stadt fahren. Und auch sie scheinen sich mit mir verbunden zu fühlen, das merke ich an ihren Blicken, wenn wir nebeneinander an den Ampeln auf Grün warten. Man sieht sich so kurz, so ohne Neugier an, wie man seinen Zwilling ansehen würde.
Die meisten von uns fahren weder sehr schnell, noch besonders langsam zur Stadt, so dass man einander nur selten überholt und immer mindestens drei Radlängen Abstand voneinander hält. Ohne meine Aktentasche auf dem Gepäckträger würde ich mich morgens zwischen den anderen Radfahrern allein fühlen.
Manchmal überholt mich die Straßenbahn, und ich sehe die teilnahmslosen Gesichter der Leute darinnen. Dann bin ich froh, dass ich mich auf die Straße konzentrieren muss, auf Schlaglöcher und Glasscherben, auf Gullydeckel und auf die silberfarbenen Noppen, die die Autos hoppeln lassen wie mit Springgummi spielende Kinder. Natürlich könnte ich auch mit der Straßenbahn zur Stadt fahren, meine Aktentasche auf dem Schoß wie einen Vogelkäfig, doch dann müsste ich mir eine Monatskarte kaufen und wäre gezwungen, auf meine wöchentlichen Cafébesuche zu verzichten. Außerdem liebe ich die Fahrten in die Stadt. Besonders, wenn die Morgensonne, wie heute, die Vorgartenzäune rosig lackiert und wenn der Fahrtwind mir weich wie ein Katzenhaarpinsel über die Haut streicht. Am meisten liebe ich die Fahrt durch den Park. Im Park herrscht eine andere Zeit, hier ticken meine Zellen, hier werfe ich Luftwurzeln aus zwischen Finken und Amseln. Und mit jenem Mann, der tagtäglich auf derselben Parkbank sitzt, teile ich hier die Erinnerung an eine hinter uns zugeschlagene Tür.
Wenn ich in der Stadt bin, greife ich bisweilen hinter mich, um zu fühlen, ob meine Aktentasche noch da ist. Ich versuche, das unauffällig zu tun, weil ich niemanden beleidigen will. Nicht den Radfahrer, der links neben mir fährt, und der auch eine braune Aktentasche hat, eine abgegriffene, die auf dem Gepäckträger in sich zusammengesackt ist wie ein Toter. Den Radfahrer, der an den Ampeln immer eine Radlänge hinter mir stehen bleibt. Und auch nicht den Jüngling mit der schwarzen Sonnenbrille und dem schwarzen hochgekämmten Haar, niemanden will ich beleidigen, nur kann ich es nicht lassen, ab und an nach hinten zu greifen, um das Leder zu fühlen.
Wenn meine Aktentasche fort wäre, wäre ich traurig, aber selbstverständlich würde ich über ihren Verlust hinwegkommen. Denn eigentlich brauche ich ja gar keine Aktentasche. Doch dann hätte ich keinen Grund mehr, morgens in die Stadt zu fahren. Eigentlich fahre ich ja morgens meine Aktentasche in die Stadt. In ihr sind niemals Akten. Ich mache jeden Abend Inventur. Dann leere ich meine Aktentasche auf dem Küchentisch aus und lege ihren Inhalt für den nächsten Morgen neben dem Frühstücksgeschirr bereit: ein Päckchen Taschentücher, einen Tampon, ein Heftpflaster, eine Parfümprobe, einen Lippenstift, einen Zehneuroschein und meinen Regenumhang. Den Inhalt meiner Aktentasche kennt außer mir niemand. Doch wen sollte auch der Inhalt einer Aktentasche interessieren?
In der Stadt angekommen, verteilt sich der Strom der Radfahrer in alle Richtungen und die Träger von Aktentaschen verschwinden in Toreinfahrten mit Firmenschildern und hinter den Pforten von Bürohochhäusern. Zurück bleiben ein paar alte Frauen mit winzigen Einkaufstaschen und Schlaftrunkene mit Brötchentüten in den Händen und unter den Arm geklemmten Zeitungen. Die meisten Geschäfte sind dann noch geschlossen, und die Gesichter hinter den Fensterscheiben der Frühstückscafés sehen so blass aus, als lösten sie sich gerade auf. Dann muss ich bisweilen nach hinten greifen und das Leder meiner Aktentasche fühlen, um zu wissen, dass ich keine Straße bin und dass diese Stadt nicht ich ist.
Ich wähle jeden Tag eine andere Gegend. So kennt man mich nicht, man bezieht mich nicht in morgendliche Grußrituale ein, so störe ich nicht das morgendliche Gleichgewicht. Wie unter einer Tarnkappe fahre ich vorbei, nur den anderen Unsichtbaren sichtbar. Dann mache ich mich auf den Heimweg. Auf dem Heimweg kommt mir meine Aktentasche manchmal unpassend vor. Sie hindert mich zum Beispiel daran, in eines der Frühstückscafés zu gehen und dort ausgiebig Zeitung zu lesen. Oder im Park auf einer Bank zu sitzen und den Tag zu vertrödeln. Dann bin ich manchmal nahe daran, meine Jacke auszuziehen, um meine Aktentasche darunter zu verbergen. Doch dann habe ich das Gefühl, ihr etwas schuldig zu sein und richte mich im Fahrradsattel auf. Und allmählich rückt hinter mir die Stadt zu einem Bild zusammen.