Jede Lyrikerin schreibt heimlich auch ein wenig Prosa.
Ich lebe mit meiner Freundin zusammen. Meine Freundin lebt nahe am Kiosk. Vor dem Kiosk steht ein aufgespannter Sonnenschirm mit einem Stehtisch. Dort steht meine Freundin nie. Der Sonnenschirm ist sommers wie winters, bei schönem und bei schlechtem Wetter aufgespannt. Seine Farben, Rot und Gelb, sind ausgebleicht. Unter dem Sonnenschirm stehen meistens drei Männer, sommers wie winters. Immer, wenn ich an dem Kiosk vorbeigehe, halte ich nach meiner Freundin Ausschau. Darum kenne ich die drei Männer jetzt schon ganz gut. Sie tragen schmutzige Schuhe und sehen niemandem ins Gesicht. Ihre Blicke treffen sich meistens zwischen den drei Bierflaschen auf dem Stehtisch an einem geheimnisvollen Schnittpunkt, zu dem die Männer zu sprechen scheinen. Manchmal frage ich mich, ob dort ihr Gott wohnt, ein Gott mit feuchten Füßen, feucht von den Rändern der wechselnden Bierflaschen.
Meine Freundin sitzt meist in der Nähe des Kiosks auf einer Bank. Doch wenn sie mich kommen sieht, steht sie auf und geht weg, ohne mich anzusehen. Trotzdem halte ich jedes Mal nach ihr Ausschau. Ich glaube, ich hoffe, einmal neben ihr auf der Bank sitzen zu dürfen, um mit ihr zu sprechen, wie man, auf einer Bank im Freien sitzend, miteinander spricht. Doch das erlaubt sie mir nicht, wahrscheinlich, weil die Bank nicht irgendwo im Freien steht, sondern in der Nähe des Kiosks. Wenn meine Freundin morgens zum Kiosk geht, beobachte ich sie heimlich durch das Fenster des Badezimmers. Sie geht sehr langsam zum Kiosk, so langsam, als müsse sie jeden Schritt dem Boden entreißen. Manchmal vergisst sie, Straßenschuhe anzuziehen und geht in ihren Filzpantinen. Und manchmal trägt sie ihre Bluse mit den Knöpfen nach innen. Wenn meine Freundin zum Kiosk geht, sieht sie viel älter aus, als sie ist. Ich beobachte sie immer, hinter den Wedeln des Schwertfarns am Badezimmerfenster verborgen. Doch sie dreht sich nie um, wenn sie zum Kiosk geht. So schaue ich immer auf ihren Hinterkopf mit dem braunen Haar, das morgens vom Schlafen ganz flachgedrückt ist, weil meine Freundin am Hinterkopf einen Wirbel hat. Ihr Haar sieht morgens auf dem Weg zum Kiosk aus, als habe ein Vogel darinnen ein Nest zu bauen begonnen. Wenn ich meine Freundin durch den Schwertfarn hindurch beobachte, bin ich meistens nackt. Ich sehe mich dann manchmal im Spiegel an und untersuche mein Körperhaar, ob auch bei mir ein Vogel ein Nest bauen könnte. Dann steige ich in die Duschkabine. Ich nehme mir jeden Morgen vor, in Ruhe zu duschen. Doch ich muss immer an meine Freundin denken, die auf dem Weg zum Kiosk ist.
Meine Freundin hat eine zarte Haut. Wenn ich mit den Fingerkuppen darüber streiche, habe ich das Gefühl, ich führe über die Blütenblätter einer Lilie. Am Körper ist die Haut meiner Freundin hell. Nur ihr Gesicht und die Hände und Füße sind purpur. Am Wochenende reibe ich ihre Beine mit Franzbranntwein ein, damit sie nicht wund werden. Dann sprechen wir miteinander, wie man spricht, wenn man zusammen auf einer Bank im Freien sitzt. Am Wochenende ist der Kiosk geschlossen. Dann decke ich für meine Freundin und mich den Frühstückstisch und stelle Blumen in die Mitte. Ich nehme die Blumen der Jahreszeit und im Winter etwas Exotisches wie Strelitzien oder Kallas. Wenn meine Freundin am Wochenende zum Frühstückstisch kommt, zittern ihre Hände wie die Blätter der Pappeln am Rheinufer. Dann sehen wir aus dem Fenster am Frühstückstisch und sprechen über die großen Dinge der Welt. Bisweilen, wenn meine Freundin den Kopf abwendet, schaue ich auf ihre zitternden Hände und stelle mir vor, wie es wäre, sie zwischen meinen ruhigen gefangen zu halten.
Wenn ich am Wochenende am Kiosk vorbeigehe, ist ein Ständer mit Zeitschriften vor das Verkaufsfenster geschoben. Manchmal steht auf dem Stehtisch am Wochenende eine leere Bierflasche. Dann denke ich an die drei Männer und frage mich, wo sie jetzt sind. Einmal habe ich meine Freundin gefragt, doch sie drehte sich um und ging fort. Seitdem bin ich erleichtert, die drei Männer montags am Kiosk zu sehen.
*aus: Das Hohelied, Salomo, 1,1-4,14 sp;
Heute habe ich Primeln gekauft, rote, gelbe, blaue, weiße, rosafarbene und mehrfarbige. Die mehrfarbigen stellte ich in die Wohnung, an die heimlichen Knotenpunkte, die Songlines meines Wohnungslebens. So halte ich aus, bis draußen die Lieder verwirklicht werden, welche Knospen und Vögel zu singen begonnen haben. Meine Wohnung ist mir ein sicheres Land. Selten nur, wenn mir, wie neulich, der Gurt eines Rollladens in den Fingern zerreißt, mürbe geworden vom Auf und Ab der letzten Jahre, oder wenn ich den Griff der Besenkammertür einmal wieder in der Hand behalte, die Klinke, die seit Jahren unverschraubt an der Tür hängt, und die in beruhigend regelmäßigen Abständen von mir mit einem kräftigen Handschlag zum unauffälligen Funktionieren gebracht wird, ganz selten zwingt meine Wohnung mir beunruhigende Gedanken an die Vergänglichkeit auf. Meistens gehe ich ruhig meinen Beschäftigungen nach, ruhig zwischen den standfesten Dingen, beruhigt durch den zuverlässigen Kreislauf aus Schmutz und Sauberkeit, aus staubigen und wieder glänzenden Flächen. Manchmal denke ich, ich sollte ein anderes Leben führen, ein Leben der Bewegung mit Fernreisen und leidenschaftlichen Amouren, mit Sprüngen ins Unbekannte, Beunruhigende. Wenn ich dies denke, sitze ich tagelang regungslos auf der Couch, während meine Fantasie durch die Welt reist.
Ich sehe aus dem Fenster. Die einfarbigen Primeln stehen auf dem Balkontisch. Sie sind wie der Finger, der ungeduldig auf den Tisch klopft, ungeduldig, weil der Frühling auf sich warten lässt. Und das ist etwas, das mich ein wenig beunruhigt: der Finger klopft jedes Jahr etwas ungeduldiger. Ich spüre es als gelinde Atemnot im Februar. Zuerst war es nur ein dezentes Ermüden, wenn ich die Wohnung verlassen wollte, dann wurde es stärker, das Treppensteigen wurde zur Mühsal, der tägliche Einkauf zur lästigen Pflicht. Ich verschob die großen Projekte auf den Mai und probte einen neuen, ruhigeren Rhythmus ohne Spaziergänge durch grau-braun vor sich hinmodernde Vorgartensiedlungen. Einkäufe machte ich wöchentlich, das vergessene Mehl erbat ich mir von den Nachbarn. Mein Leben verlangsamte sich, und heute bin ich fast am Stillstand angelangt. Fast. Ich habe ja Primeln gekauft. Ich komme mir vor wie ein Maler, der plötzlich und unerwartet leuchtende Kleckse auf den vertraut tristen Grund malt. Blau, Rot, Gelb, Rosa, plötzlich und unerwartet vom stillen Betrachter. Die Primeln verbinden mich mit den Nachbarn. Auch sie haben Primeln gekauft, und überall in den Fenstern, auf Balkonen, in Vorgärten sind sie als farbige Tupfen zu sehen. Sie stimmen nicht, wie die Ostereier in den Schaufenstern stimmen sie nicht, das Februarlicht passt nicht zu ihnen. Es passt zu den bescheidenen Köpfen der Schneeglöckchen. Doch Schneeglöckchen passen nicht in die Wohnung. Ich fühle mich heute meinen Nachbarn sehr nah, so nah, als spürte ich ihren Atem an der Wange, im Nacken. Wir alle haben Primeln gekauft, wir warten auf den Frühling. Ich habe ein Buch, das heißt "Blütenpracht für jeden Garten". Darin sind schwarz-weiße Primeln abgebildet. Schwarz-weiße! Wer wohl schwarz-weiße Primeln kauft? Meine mehrfarbigen Primeln sind rot-gelb und blau-weiß mit einem gelben Stern in der Mitte. Die rot-gelben sind samtig wie Katzenpfoten, und das Rot geht an den Blütenblattspitzen in Purpur über. Sie stehen dort, wo mein Blick sie benötigt, um nicht zu ermüden. Jemand, der schwarz-weiße Primeln kaufen würde, wäre mir fremd. Und doch: ich könnte mir vorstellen, dass ich mir nächstes Jahr schwarz-weiße Primeln kaufe, nächstes Jahr oder übernächstes. Vielleicht fühle ich mich dann als etwas Besonderes, den Nachbarn mit ihren roten, gelben, blauen Primeln Überlegenes. Vielleicht genieße ich dann meine Einsamkeit, die stille Größe von schwarz-weißen Primeln. Ich kann mir auch vorstellen, dass ich dann gar nicht mehr auf den Frühling warte. Nächstes Jahr oder übernächstes.
Eigentlich wäre ich ja lieber jemand, der keine Primeln kauft. Eigentlich finde ich Menschen, die Primeln kaufen, ungeduldig. Sie können den Frühling nicht abwarten, sie klopfen mit dem Finger. Sie sind abhängig, ja, sie sind Sklaven des Grünen. Eigentlich wäre ich lieber stark und unabhängig und in mir ruhend. Eine beeindruckende Persönlichkeit. Eigentlich schäme ich mich für die Primeln. Ich möchte sie nicht jedem zeigen. Günter Grass, zum Beispiel, würde ich meine Primeln nicht zeigen wollen. Doch Primeln wollen gesehen werden, das ist ihr Naturell. Sie lassen sich nicht in der zweiten Reihe im Bücherregal verbergen wie meine Kriminalromane, sie wollen ans Licht. Die schwarz-weißen Primeln in meinem Gartenbuch sehen aus wie geschimmelte schwarze. Sie haben eine eigenartig dekadente Schönheit, sie wirken wie ihr eigenes Gegenteil. Ich beginne, einen Drang zu spüren, den Drang, sie zu besitzen, sie und die daneben abgebildeten zyklamfarbenen. Bestimmt sind sie teuer, sind sie die Adligen unter den Primeln. Man dürfte sie nicht neben die anderen stellen, müsste ihnen einen besonderen Platz in der Wohnung einräumen. Ein Blumensockel wäre das richtige. Ich besitze keinen Blumensockel, ich hätte plötzlich viel zu tun. Der Frühling würde mich bei der Arbeit überraschen, beim Bau eines Blumensockels etwa oder beim Besuch der zweiundzwanzigsten Gärtnerei. Ich glaube, es wird schwer werden, mit dem Kaufen von Primeln aufzuhören.
© Ursula Teicher-Maier
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